Michael ist acht Jahre alt und an seiner Schule ein Außenseiter. Im Berliner Problemstadtteil Neukölln gehört er als Deutscher zu einer Minderheit. 96 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund. Auf dem Pausenhof wurde er schon verprügelt und als Christ beschimpft.
Der 15-jährige Johnny würde am liebsten wegziehen, und die neunjährige Celina erzählt, dass ihre Eltern ihr geraten haben, Arabisch zu lernen, damit sie sich wehren kann. Umgekehrte Diskriminierung ist ein neues Phänomen in Stadtteilen, in denen immer weniger Deutsche und immer mehr Migranten leben. Wie konnte es so weit kommen?
Täglich gemobbtIm Berliner Stadtteil Neukölln gibt es Schulen mit bis zu 90 Prozent Migranten. Die Stimmung ist gereizt. Deutsche Schüler werden angeblich gemobbt und ausgegrenzt, doch kaum jemand spricht offen über die Probleme. Auch in der Thomas-Morus-Hauptschule stammt die Mehrheit der Schüleraus dem Libanon, der Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien. Sie geben hier den Ton an. Wer sich nicht anpasst, gilt als Außenseiter. Dennis und Johnny sind zwei der wenigen deutschen Schüler. Schon der Gang über den Schulhof wird für Dennis und Johnny zum Problem. Sie werden fast täglich gemobbt, erzählen sie.
Was man hier erlebt, ist verstörend. Auch früher gab es Konflikte, aber es gab noch keine Ghettobildung. Die Trennung hat sich verschärft. Hat die Politik in den letzten Jahren die Augen geschlossen? Dass Minderheiten gemobbt werden, das gäbe es immer, erklärt der Beauftragte des Berliner Senats für Integration, Günter Piening. In dieser Schule in Neukölln seien es eben Deutsche.
"Schulen stark machen""Wenn zwei Schüler in einer Schule sind, in der sonst nur türkische Schüler sind, dann ist das für diese Schüler keine einfache Situation", so Piening. "Das ist doch ganz verständlich. Wir müssen die Schulen stark machen, mit dieser Situation umzugehen. Diese Vorstellung, wir könnten zurück in eine Zeit, in der 50 Prozent der Jugendlichen oder weniger Migrationshintergrund haben, die sind endgültig vorbei." Der Ansatz müsse sein, Schulen in den Kiezen mit mehr Mitteln, mit mehr Sozialarbeitern stark zu machen, damit sie wieder attraktiv werden. "Das geht nicht von heute auf morgen, aber das ist die einzige Möglichkeit in einer Stadt, die wie kaum eine andere Stadt von Einwanderung geprägt ist."
Wer es sich leisten kann, zieht aus Stadtteilen wie Neukölln weg. Aber manche Eltern können es sich nicht leisten. "Ich wohne in einem Haus in Kreuzberg, in dem viele junge Familien wohnen, die selbstverständlich, wenn das Kind sechs Jahre alt wird, überlegen: 'Schicke ich mein Kind nach Kreuzberg oder ziehe ich um'", sagt der Integrationsbeauftragte Piening. "Das ist selbstverständlich eine zentrale Frage.“ Wegziehen? Wenn das die einzige Lösung ist, dann ist die Idee der Integration auf jedenFall gescheitert. Vielleicht ist das eine Entwicklung, die man noch abwenden kann. Darüber offen zu sprechen, wäre ein Anfang.
Quelle: http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/134132/index.html
Montag, 2. März 2015
Sonntag, 1. März 2015
Deutschenfeindlichkeit - "Schweinefresser"
Was tun, wenn Migrantenkinder deutsche Mitschüler unterdrücken? Berliner Lehrer sind verzweifelt
Es liegt ein Hauch von Panik in der Luft, als die Lehrerin endlich zu sprechen beginnt. Sie schluckt. Sie sagt: »Ich bekomme immer mehr Ehrfurcht und Respekt vor diesem Thema.« Dieses Thema, das ist die »sogenannte Deutschenfeindlichkeit« ihrer türkisch- und arabischstämmigen Schüler.
Kein Wunder, dass die Lehrerin so beklommen ist. Nur zwei Straßen entfernt vom Tagungsort hetzt der Rechtspopulist Geert Wilders gegen Muslime , die angeblich Deutschland durch Masseneinwanderung unterwerfen wollen. Die Lehrerin, die ihr halbes Leben an einer Schule in Neukölln verbracht hat, will mit der politisierenden Islamophobie nichts zu tun haben. Dies hier ist eine Veranstaltung des multikulturellen Ausschusses der linken Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Furcht, eine ohnehin schon hysterische Debatte noch weiter anzuheizen, füllt den Raum.
Zwei Mitglieder des GEW-Ausschusses für multikulturelle Angelegenheiten, Andrea Posor und Christian Meyer, hatten in einem Artikel für die Berliner Lehrerzeitung Alarm geschlagen, in den zunehmend segregierten Schulen verstärke sich das Mobbing gegen deutsche Schüler. Dieser bereits vor einem Jahr erschienene Hilferuf löste so heftige Diskussionen unter den Lehrern aus, dass man sich, wenn auch unter großen ideologischen Bauchschmerzen, entschloss, eine Tagung zum Thema einzuberufen. Alles selbstverständlich hochseriös, abgesichert mit Rassismusexperten, Migrantenvertretern, Bildungsforschern. Zu groß ist die Angst, selbst unter Rassismusverdacht zu geraten.
Aber am Ende schaut dann eben alles auf diese Frau, die von der Pöbelei berichtet, der deutsche Schüler – und Lehrer – ausgesetzt sind. Sie lehrt seit mehr als zwanzig Jahren an der Otto-Hahn-Gesamtschule im Stadtteil Neukölln und heißt Mechthild Unverzagt.
»Ist ja irre, dass die auch noch diesen Nachnamen hat«, flachst ein Lehrerkollege in der hintersten Reihe vor lauter Anspannung. Dann redet Frau Unverzagt, und sofort wird es leise im vollen Tagungsraum des Berliner GEW-Hauses.
Sie spricht von »Ghettoisierungstendenzen« in Neukölln, einem sogenannten »A-Bezirk« (»A« für Alte, Arbeitslose, Ausländer, Alleinerziehende). An ihrer Schule seien über 80 Prozent der Kinder »nichtdeutscher Herkunftssprache«, die große Mehrheit davon türkisch- oder arabischstämmig. Fast alle Familien seien arm, viele zerrüttet. Die türkischen und arabischen Schüler seien tonangebend in ihrer Respektlosigkeit gegenüber Lehrern. Sie bekämen dafür Anerkennung unter ihresgleichen und stärkten so ihr Selbstwertgefühl: »Wenn es bei uns mal sogenannten Unterricht gibt, erleben sie Misserfolge. Also tun sie alles, um ihn zu sabotieren.« Die deutschen Kinder hätten als kleine Minderheit »alle Qualitäten, die ein Opfer haben muss«. Sie müssten lernen, »sich unsichtbar zu machen«. Sie wollten während der Pausen nicht mehr auf den Schulhof, weil draußen nur ein Spießrutenlauf mit Beschimpfungen und Drohungen auf sie warte. Nicht nur deutsche, auch leistungsbereite türkische und arabische Schüler würden von den Wortführern niedergemacht. Ein türkischer Junge, der zu den guten Schülern zähle, werde als »schwul« beschimpft: »Jeder, der irgendwas erreichen will in der Schule, ist der Gegner. Es wird alles gemobbt, was anders ist.« Auch sie selber ist in demütigender und sexistischer Weise angemacht worden.
Es dauert eine Weile, bis die Teilnehmer sich nach Unverzagts Schilderungen fangen. An diesem Samstagmorgen kann man erleben, wie schwer es manchen Linken immer noch fällt, offen von den Konflikten des Einwanderungslandes zu reden. Eine Professorin für Rassismusforschung versucht nachzuweisen, dass die »strukturell benachteiligten Schüler« türkischer oder arabischer Herkunft per definitionem nicht zum Rassismus fähig seien, weil sie ja eine machtlose Minderheit darstellten. Nach dem Bericht von Mechthild Unverzagt wirkt das einigermaßen bizarr. »Diese Kinder waren noch nie in einer Minderheitensituation«, erwidert die Lehrerin.
Vielleicht liegt ja darin das Problem. Christian Meyer, selber Lehrer an der Hector-Peterson-Gesamtschule in Kreuzberg und einer der beiden Autoren des Artikels, der die Debatte ins Rollen brachte, spricht von der »doppelten Segregationsfalle«: Nicht nur die Deutschen ziehen aus den »A-Bezirken« weg, sondern auch die bildungsbewussten Migranten. Die verbliebenen Schüler »kompensieren Frustrationen und Perspektivlosigkeit durch Macho-Gehabe«. Sie definierten sich stolz als Nichtdeutsche und blickten verachtend auf Deutsche als Ungläubige, »Schweinefleischfresser« und – wenn es sich um Mädchen handelt – »Schlampen«. Die trotzige Selbstausgrenzung von Losern, die sich an noch Schwächeren abarbeiten, ist für sich nichts Neues – nur dass die Schwächeren jetzt in manchen Berliner Kiezen Deutsche sind. Jagen nicht anderswo deutsche Rechtsradikale Juden, Linke und alles irgendwie Fremde?
Mancher bei der Tagung neigt dazu, die Sache allzu schnell wegzuerklären. Bei dem Verhalten der Jugendlichen müsse es sich wohl um die »Rückgabe erlebter eigener Diskriminierung« handeln, sagt ein Teilnehmer. Sofort sind Beispiele zur Hand, bei denen Mädchen mit Kopftüchern diskriminiert und arabische Jungs nicht in die Disco gelassen werden. Ein Teilnehmer fordert daraufhin mehr »Lehrer mit Migrationshintergrund«, andere verlangen eine Nachschulung der Pädagogen in »interkultureller Kompetenz«, ergänzt um die Möglichkeit für »ausgebrannte Kollegen, sich früh pensionieren zu lassen«. Und auf einmal wendet sich der Verdacht gegen die Lehrer, die von ihrer Ohnmacht erzählt hatten: Sind sie einfach zu wenig »kultursensibel«?
Christian Meyer lässt das nicht auf sich sitzen. Seit über 30 Jahren ist er an der Schule in Kreuzberg, und er hat einen »interkulturellen Kalender« produziert, der die Feste aller Religionen verzeichnet: »Wir haben Türkischunterricht, wir machen Fahrten in die Türkei, Lehrer haben Türkisch gelernt. Gegen die Segregation kommen wir aber mit mehr Interkulturalität alleine nicht an.«
Meyer macht sich Sorgen, dass neuerdings die religiöse Differenz zunehmend zur Selbststigmatisierung benutzt wird. Und er möchte, dass gerade diejenigen verstehen, wie alarmierend das ist, die sich für die Integration des Islams einsetzen. Wenn die Religion zum Mittel der Abgrenzung wird, spielt das am Ende gerade denjenigen in die Hände, die sich darin einig sind, dass der Islam mit westlichen Werten unvereinbar sei: Hasspredigern und Islamophoben.
Das Unbehagen, Deutsche als Opfer von Diskriminierung zu thematisieren, bleibt bei der Tagung bis zum Ende. Mechthild Unverzagt sagt schließlich fast reumütig, sie wolle den politisierten Begriff der Deutschenfeindlichkeit »nicht mehr hören«. Sie will sich nicht vor den Karren der Demagogen spannen lassen, die auch ohne Kenntnis der Verhältnisse per Ferndiagnose schon »den Islam« als Ursache ausgemacht haben. Aber sie möchte doch, dass man zur Kenntnis nimmt, dass ausgerechnet sie, die engagierte Lehrerin, den Hass der Verlierer abbekommt, der dieser Gesellschaft im Ganzen gilt.
Was tun? Gewerkschafter sind nie lange verlegen, Rezepte gegen Benachteiligung zu formulieren. Eine bessere Schule, ganztags und mit mehr Ausstattung, wurde dann auch gefordert, neue Unterrichtsformen, interreligiös ausgebildete Lehrer, eine größere soziale Mischung. Also genau das, was an der einst als hoffnungslos geltenden Rütli-Schule die Wende gebracht hat. »Es ist ein Verbrechen, wie das Potenzial dieser Kinder verschwendet wird«, sagte Mechthild Unverzagt, so als müsse sie noch einmal klarstellen, dass die Schüler nicht ihre Gegner sind. »Wir brauchen eine Lobby«, sagt sie fast flehend.
Für Lehrer wie Mechthild Unverzagt und Christian Meyer ist es wichtig, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden. Sie fühlen sich alleingelassen. Sie brauchen keine Belehrung über die sozialen Ursachen des Mobbings, dem sie und andere ausgesetzt sind. Sie brauchen die Anerkennung, dass bestimmte Verhaltensweisen inakzeptabel sind, auch unter schlimmsten Bedingungen. Und so sind sie am Ende erleichtert, dass die Gewerkschaft die Angst vor der eigenen Courage überwunden hat.
Den Kampf mit der neu erstarkenden Rechten in Deutschland und Europa kann man auch so sehen: Wenn dieses Land eine Linke hat, die den öffentlichen Raum gegen jeden Rassismus verteidigt – auch den von Nichtdeutschen –, haben Rechtspopulisten ein Thema weniger.
Quelle: DIE ZEIT, 07.10.2010
Es liegt ein Hauch von Panik in der Luft, als die Lehrerin endlich zu sprechen beginnt. Sie schluckt. Sie sagt: »Ich bekomme immer mehr Ehrfurcht und Respekt vor diesem Thema.« Dieses Thema, das ist die »sogenannte Deutschenfeindlichkeit« ihrer türkisch- und arabischstämmigen Schüler.
Kein Wunder, dass die Lehrerin so beklommen ist. Nur zwei Straßen entfernt vom Tagungsort hetzt der Rechtspopulist Geert Wilders gegen Muslime , die angeblich Deutschland durch Masseneinwanderung unterwerfen wollen. Die Lehrerin, die ihr halbes Leben an einer Schule in Neukölln verbracht hat, will mit der politisierenden Islamophobie nichts zu tun haben. Dies hier ist eine Veranstaltung des multikulturellen Ausschusses der linken Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Furcht, eine ohnehin schon hysterische Debatte noch weiter anzuheizen, füllt den Raum.
Zwei Mitglieder des GEW-Ausschusses für multikulturelle Angelegenheiten, Andrea Posor und Christian Meyer, hatten in einem Artikel für die Berliner Lehrerzeitung Alarm geschlagen, in den zunehmend segregierten Schulen verstärke sich das Mobbing gegen deutsche Schüler. Dieser bereits vor einem Jahr erschienene Hilferuf löste so heftige Diskussionen unter den Lehrern aus, dass man sich, wenn auch unter großen ideologischen Bauchschmerzen, entschloss, eine Tagung zum Thema einzuberufen. Alles selbstverständlich hochseriös, abgesichert mit Rassismusexperten, Migrantenvertretern, Bildungsforschern. Zu groß ist die Angst, selbst unter Rassismusverdacht zu geraten.
Aber am Ende schaut dann eben alles auf diese Frau, die von der Pöbelei berichtet, der deutsche Schüler – und Lehrer – ausgesetzt sind. Sie lehrt seit mehr als zwanzig Jahren an der Otto-Hahn-Gesamtschule im Stadtteil Neukölln und heißt Mechthild Unverzagt.
»Ist ja irre, dass die auch noch diesen Nachnamen hat«, flachst ein Lehrerkollege in der hintersten Reihe vor lauter Anspannung. Dann redet Frau Unverzagt, und sofort wird es leise im vollen Tagungsraum des Berliner GEW-Hauses.
Sie spricht von »Ghettoisierungstendenzen« in Neukölln, einem sogenannten »A-Bezirk« (»A« für Alte, Arbeitslose, Ausländer, Alleinerziehende). An ihrer Schule seien über 80 Prozent der Kinder »nichtdeutscher Herkunftssprache«, die große Mehrheit davon türkisch- oder arabischstämmig. Fast alle Familien seien arm, viele zerrüttet. Die türkischen und arabischen Schüler seien tonangebend in ihrer Respektlosigkeit gegenüber Lehrern. Sie bekämen dafür Anerkennung unter ihresgleichen und stärkten so ihr Selbstwertgefühl: »Wenn es bei uns mal sogenannten Unterricht gibt, erleben sie Misserfolge. Also tun sie alles, um ihn zu sabotieren.« Die deutschen Kinder hätten als kleine Minderheit »alle Qualitäten, die ein Opfer haben muss«. Sie müssten lernen, »sich unsichtbar zu machen«. Sie wollten während der Pausen nicht mehr auf den Schulhof, weil draußen nur ein Spießrutenlauf mit Beschimpfungen und Drohungen auf sie warte. Nicht nur deutsche, auch leistungsbereite türkische und arabische Schüler würden von den Wortführern niedergemacht. Ein türkischer Junge, der zu den guten Schülern zähle, werde als »schwul« beschimpft: »Jeder, der irgendwas erreichen will in der Schule, ist der Gegner. Es wird alles gemobbt, was anders ist.« Auch sie selber ist in demütigender und sexistischer Weise angemacht worden.
Es dauert eine Weile, bis die Teilnehmer sich nach Unverzagts Schilderungen fangen. An diesem Samstagmorgen kann man erleben, wie schwer es manchen Linken immer noch fällt, offen von den Konflikten des Einwanderungslandes zu reden. Eine Professorin für Rassismusforschung versucht nachzuweisen, dass die »strukturell benachteiligten Schüler« türkischer oder arabischer Herkunft per definitionem nicht zum Rassismus fähig seien, weil sie ja eine machtlose Minderheit darstellten. Nach dem Bericht von Mechthild Unverzagt wirkt das einigermaßen bizarr. »Diese Kinder waren noch nie in einer Minderheitensituation«, erwidert die Lehrerin.
Vielleicht liegt ja darin das Problem. Christian Meyer, selber Lehrer an der Hector-Peterson-Gesamtschule in Kreuzberg und einer der beiden Autoren des Artikels, der die Debatte ins Rollen brachte, spricht von der »doppelten Segregationsfalle«: Nicht nur die Deutschen ziehen aus den »A-Bezirken« weg, sondern auch die bildungsbewussten Migranten. Die verbliebenen Schüler »kompensieren Frustrationen und Perspektivlosigkeit durch Macho-Gehabe«. Sie definierten sich stolz als Nichtdeutsche und blickten verachtend auf Deutsche als Ungläubige, »Schweinefleischfresser« und – wenn es sich um Mädchen handelt – »Schlampen«. Die trotzige Selbstausgrenzung von Losern, die sich an noch Schwächeren abarbeiten, ist für sich nichts Neues – nur dass die Schwächeren jetzt in manchen Berliner Kiezen Deutsche sind. Jagen nicht anderswo deutsche Rechtsradikale Juden, Linke und alles irgendwie Fremde?
Mancher bei der Tagung neigt dazu, die Sache allzu schnell wegzuerklären. Bei dem Verhalten der Jugendlichen müsse es sich wohl um die »Rückgabe erlebter eigener Diskriminierung« handeln, sagt ein Teilnehmer. Sofort sind Beispiele zur Hand, bei denen Mädchen mit Kopftüchern diskriminiert und arabische Jungs nicht in die Disco gelassen werden. Ein Teilnehmer fordert daraufhin mehr »Lehrer mit Migrationshintergrund«, andere verlangen eine Nachschulung der Pädagogen in »interkultureller Kompetenz«, ergänzt um die Möglichkeit für »ausgebrannte Kollegen, sich früh pensionieren zu lassen«. Und auf einmal wendet sich der Verdacht gegen die Lehrer, die von ihrer Ohnmacht erzählt hatten: Sind sie einfach zu wenig »kultursensibel«?
Christian Meyer lässt das nicht auf sich sitzen. Seit über 30 Jahren ist er an der Schule in Kreuzberg, und er hat einen »interkulturellen Kalender« produziert, der die Feste aller Religionen verzeichnet: »Wir haben Türkischunterricht, wir machen Fahrten in die Türkei, Lehrer haben Türkisch gelernt. Gegen die Segregation kommen wir aber mit mehr Interkulturalität alleine nicht an.«
Meyer macht sich Sorgen, dass neuerdings die religiöse Differenz zunehmend zur Selbststigmatisierung benutzt wird. Und er möchte, dass gerade diejenigen verstehen, wie alarmierend das ist, die sich für die Integration des Islams einsetzen. Wenn die Religion zum Mittel der Abgrenzung wird, spielt das am Ende gerade denjenigen in die Hände, die sich darin einig sind, dass der Islam mit westlichen Werten unvereinbar sei: Hasspredigern und Islamophoben.
Das Unbehagen, Deutsche als Opfer von Diskriminierung zu thematisieren, bleibt bei der Tagung bis zum Ende. Mechthild Unverzagt sagt schließlich fast reumütig, sie wolle den politisierten Begriff der Deutschenfeindlichkeit »nicht mehr hören«. Sie will sich nicht vor den Karren der Demagogen spannen lassen, die auch ohne Kenntnis der Verhältnisse per Ferndiagnose schon »den Islam« als Ursache ausgemacht haben. Aber sie möchte doch, dass man zur Kenntnis nimmt, dass ausgerechnet sie, die engagierte Lehrerin, den Hass der Verlierer abbekommt, der dieser Gesellschaft im Ganzen gilt.
Was tun? Gewerkschafter sind nie lange verlegen, Rezepte gegen Benachteiligung zu formulieren. Eine bessere Schule, ganztags und mit mehr Ausstattung, wurde dann auch gefordert, neue Unterrichtsformen, interreligiös ausgebildete Lehrer, eine größere soziale Mischung. Also genau das, was an der einst als hoffnungslos geltenden Rütli-Schule die Wende gebracht hat. »Es ist ein Verbrechen, wie das Potenzial dieser Kinder verschwendet wird«, sagte Mechthild Unverzagt, so als müsse sie noch einmal klarstellen, dass die Schüler nicht ihre Gegner sind. »Wir brauchen eine Lobby«, sagt sie fast flehend.
Für Lehrer wie Mechthild Unverzagt und Christian Meyer ist es wichtig, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden. Sie fühlen sich alleingelassen. Sie brauchen keine Belehrung über die sozialen Ursachen des Mobbings, dem sie und andere ausgesetzt sind. Sie brauchen die Anerkennung, dass bestimmte Verhaltensweisen inakzeptabel sind, auch unter schlimmsten Bedingungen. Und so sind sie am Ende erleichtert, dass die Gewerkschaft die Angst vor der eigenen Courage überwunden hat.
Den Kampf mit der neu erstarkenden Rechten in Deutschland und Europa kann man auch so sehen: Wenn dieses Land eine Linke hat, die den öffentlichen Raum gegen jeden Rassismus verteidigt – auch den von Nichtdeutschen –, haben Rechtspopulisten ein Thema weniger.
Quelle: DIE ZEIT, 07.10.2010
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