Sonntag, 13. März 2016

Die Qual der Wahl: Merkel, Schuld und Sühne

Seit Herbst vergangenen Jahres glaube ich mich immer öfter auf einem Narrenschiff namens Merkel zu befinden. Der Kapitän zeigt sich nur bisweilen, um eine Meuterei zu verhindern und schwört die Offiziere dann so lange auf Europa ein, bis die Belegschaft applaudierend jubelt: „Europa! Europa! Europa!" Die Nautischen Offiziere streiten sich derweil im Detail darüber, wie man ein Leck reparieren könnte und keiner achtet mehr auf den Kurs, den die Merkel genommen hat. Denn auch Bootsmänner und andere Teile der Crew haben anderes zu tun, als sich um ihre Kernaufgaben zu kümmern. Sie warnen tagein tagaus davor, das Schiff könne steuerbord, also rechts, zu großes Gewicht kriegen und nennen die Passagiere „Pack“, wenn sie auf Deck auf der falschen Seite flanieren.

Derweil fährt die Merkel zum Entsetzen anderer europäischer Kapitäne planlos ohne Radar orientierungslos durch die See. Andere Schiffe weichen gerade weiträumig aus und setzen ständig Signale ab, um die Merkel auf ihren wirren Kurs aufmerksam zu machen. Aber an Bord ist der Funk und Internet ausgeschaltet worden, um die Isolation innerhalb Europas nicht mehr hören zu müssen – und kurioserweise stattdessen mit „Europa“-Rufen zu übertönen. Eine Kollision ist nicht mehr eine Frage des ob, sondern nur noch eine Frage der Zeit.

Das Unter-Vier-Augen-Syndrom

Wie kommt es zu so einer Offiziersriege und solchen Passagieren, die sich auch noch an Deck sonnen, während alles aus dem Ruder läuft? Ein Grund dafür ist sicher das UVA-Syndrom, das im vergangenen Herbst erstmals zuverlässig diagnostiziert wurde. Dabei handelt es sich um das sich epidemisch ausbreitende Unter-Vier-Augen-Syndrom, das jeder mittlerweile wie einen Schnupfen kennt: Die wahren Ansichten werden nicht mehr am Arbeitsplatz, unter Freunden oder am Kneipentisch laut geäußert, sondern nur noch unter vier Augen gegenüber Vertrauten. Meinungs-Mogelpackungen haben Hochkonjunktur wie keine geringere als die Chefin des Allensbach-Institutes für Meinungsforschung schon vor einiger Zeit feststellte. Die Bundesbürger sagen in der Mehrheit zur Flüchtlingskrise nicht mehr das, was sie wirklich denken, sondern das, was sie glauben, was sie denken sollten. Die Kanzlerin wiederum zitiert munter diese falschen Angaben („90 Prozent der Bürger stehen hinter mir“).

Fast zeitgleich zur Willkommenskultur legte die deutsche DebattenUNkultur noch einmal deutlich härtere Daumenschrauben an. Abweichungen vom moralisch erlaubten Meinungskorridor bezahlen Politiker mit Shitstorms, Journalisten mit einer Kündigung und Normalbürger mit sozialer Ausgrenzung.
Die Debattenunkultur verstärkte sich nicht zeitlich zufällig so nahe an der Flüchtlingskrise. Warum etablierten ausgerechnet die Deutschen die „Willkommenskultur“? Warum trat in diesem Zusammenhang eine Aggressivität ungeahnten Ausmaßes in der Diskussion auf? Weil es um das urdeutsche Thema seit dem 20. Jahrhundert handelt, die Frage nach der Schuld. Sie wird moralisch gestellt und nicht historisch oder analytisch, um etwas zu verstehen.

Die Beschäftigung mit sich selbst

Die Merkel will Ausschwitz wieder gutmachen. „Endlich kann ich sühnen, was meine Großeltern verbrochen haben“, sagte sinngemäß nicht nur eine Flüchtlingshelferin. Unverhofft ist die historische Chance gekommen, sich von der Schuld der Nazi-Vorfahren zu befreien. Dass man mit den mehrheitlich muslimischen Migranten einen neuen Antisemitsmus noch ungeahnten Ausmaßes importiert, wird dabei geflissentlich übersehen. Denn der Deutsche und die Deutsche brillieren auf ihrem ureigenen Feld: Der Beschäftigung mit sich selbst. Wo andere Länder einen lockeren Patriotismus pflegen, geht es auf der Merkel um Schuld und Sühne, um gut und böse, um alles oder nichts. In der Kurzfassung heißt das: Wer Schwierigkeiten mit dieser Flüchtlingspolitik hat, ist ein (verkappter) Nazi.

Das erklärt wiederum ein paar psychopathologische Ungereimtheiten auf der Merkel:

Erstens: Deutsche mit Migrationshintergrund oder Juden trauen sich am noch eher das Narrenschiff zu kritisieren. Wenn mein türkischer Schwiegervater lautstark über die „völlig irren Deutschen mit dieser Flüchtlingspolitik, die der Islamisierung Tür und Tor öffnet“ schimpft, gerät er nicht in Verdacht, ein alter Nazi zu sein. Sagte mein katholischer, bayerischer Vater das gleiche würde er sofort gesellschaftlich geächtet.

Zweitens: Das kollektive „Wir wollen Auschwitz wieder gut machen“ ist nicht nur vom Kapitän befohlen, sonst würde es auch nicht funktionieren. Die ganze Besatzung und fast alle Passgiere haben eine Sehnsucht danach. Diesen Kern nahm die Politik geschickt steuernd auf und verstärkte ihn so sehr, dass nun umgekehrt argumentiert wird. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, will also aus der Geschichte nichts gelernt haben und sie nicht wieder gutmachen.
Drittens: Die Crew der sogenannten „Meinungsbildner“ nutzte die Gunst der Stunde zur Verfestigung der links-grünen Deutungshoheit im öffentlichen Diskurs. Es gibt keine Lügenpresse, aber sehr wohl eine publizistische Clique, aus der man nicht ausgeschlossen werden will, joblich und privat. Je weniger argumentativ gefestigt sich die politische Ansicht zur Ideologie wandelt, desto heftiger müssen andere Ansichten verurteilt werden. Dabei wird immer vehementer ein Menschenbild gepredigt, das die Werte der Aufklärung und deren Errungenschaften missachtet und von innen her aushöhlt. Der Mensch wird wieder als schwach, verführbar und defizitär gedacht. Man müsse ihn erziehen. Das führt dazu, dass die Politik dem Bürger misstraut, die Menschen sich untereinander misstrauen, und die Bürger schließlich auch der Politik nur noch misstrauen.

Es herrscht geistiger Bürgerkrieg

Wir haben nicht nur eine Willkommenskultur und eine Debattenunkultur geschaffen. Wir haben vor allem die Basis der Aufklärung verloren: die Wertschätzung jeden Menschens und das Vertrauen zueinander. Diese gesellschaftliche Spaltung, die Kultivierung des Misstrauens, der geistige Bürgerkrieg wird uns noch länger beschäftigen als die Flüchtlingskrise, denn sie hat schon seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts das große Leck in die Merkel geschlagen. Als Pessimist würde ich sagen: Das wird uns auf Grund auflaufen lassen. Als Optimist vertraue ich aber nach wie vor dem Menschen und den Kräften der Gemeinschaft.

„Ahoj“ sagen die Tschechen zur Begrüßung und auch zum Abschied, ähnlich dem bayerischen „Servus“ und dem italienschien „Ciao“. Alles kann ein Ende mit Schrecken und ein neuer Anfang sein. Ahoj Merkel!

Monika Bittl ist eine preisgekrönte Münchner Schriftstellerin. Ihr derzeitiger Titel „Ich hatte mich jünger in Erinnerung – Lesebotox für die Frau ab 40“ (zusammen mit Silke Neumayer) steht seit sieben Wochen auf der Spiegel-Bestellerliste, momentan auf Platz 11.


Foto: Kuebi" href=„http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/">CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons 

Quelle: http://www.achgut.com/artikel/die_qual_der_wahl_merkel_schuld_und_suehne

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