Dienstag, 17. November 2015

Nach Paris: Kämpft für die Aufklärung!


Über 120 Menschen wurden in Paris massakriert. Brendan O’Neill fragt nach dem Nährboden des Terrors in westlichen Gesellschaften. Unsere Feigheit, für die Werte der Aufklärung einzustehen, sendet eine fatale Botschaft an die nihilistischen Islamisten: Bestraft uns.

Wenige Tage nach den Pariser Gräueltaten: Die Leichen von mehr als hundert Konzertbesuchern, Feiernden und Kindern sind kaum erkaltet, da sind die Rechtfertigungsrituale bereits in vollem Gang. Dabei greifen die gleichen kulturellen Beschwichtigungsreflexe wie bei jedem terroristischen Akt. Es wird gefragt, was wir – der böse Westen – getan hätten, um so etwas zu verdienen oder es wird behauptet, dass wir – der böse Westen – mit unseren Reaktionen das Ganze nur noch schlimmer machen würden. Unsere bloße Existenz fordert offenbar mörderische Angriffe geradezu heraus. Und die „Dummheit“, auf solche Angriffe entweder mit polizeilichen Aktivitäten Zuhause oder militärischen Eingriffen im Ausland zu reagieren, rückt uns nur noch mehr ins Fadenkreuz für weitere Angriffe. Wir sind verdammt, wenn wir nichts tun und verdammt, wenn wir handeln. Unsere Bürger müssen sterben, weil unsere Nationen böse und gemein sind.

Aktuell findet man zwar nur sporadisch jene vom westlichen Selbsthass geprägten Terrorrechtfertigungen nach dem Motto „Kein Wunder, dass sie uns angreifen“. Diese Haltung klingt etwa in einem Kommentar in der britischen Zeitung The Guardian an, in dem solche Angriffe als Produkt von „hoher Jugendarbeitslosigkeit“ und „rassistischer Diskriminierung von Arabern und Afrikanern [in Frankreich]“ [1] dargestellt werden. Hier tarnt sich ein übles rassistisches Argument als progressive Empathie. Es wird impliziert, Afrikaner und Araber seien in ihrer moralischen Autonomie derart zurückgeblieben, dass sie im Gegensatz zu uns gut gebildeten Weißen gar keine andere Möglichkeit haben, als reflexartig Dutzende Menschen niederzuschießen – als eine Art pawlowsche Reaktion auf ihre individuellen Schwierigkeiten. Solch eine verschrobene Argumentationslinie liefert nicht die geringste Antwort darauf, wieso frühere Generationen von Arbeitslosen oder rassistisch Erniedrigten nicht auf die Idee kamen, auf Rock-Konzerten Geiseln zu nehmen und sie anschließend hinzurichten.

„Die Medien und die politischen Eliten fürchten sich vor der Gesellschaft und verabscheuen die Menschen, unter denen sie leben“

Man findet diese Rechtfertigungshaltung auch in einem fast schon blutdurstig anmutenden Beitrag eines linken Journalisten, der sich darüber zu freuen scheint, dass nun „endlich auch Menschen aus dem Abendland eine kleinen Eindruck von der allgegenwärtigen Angst bekommen, die Menschen anderer Nationen über Generationen aushalten mussten“ [2], weil sich der Westen dort immer wieder militärisch eingemischt hat. Was konnte die vierköpfige Familie, die an ihrem Restauranttisch im elften Arrondissement abgeschlachtet wurde, vor diesem Hintergrund auch anderes erwarten? Es ist an der Zeit, dass wir und auch sie diesen Schmerz spüren. Diese Haltung drückt sich auch im Frankreich-Bashing, etwa in der Aussage eines irischen Politikers, aus, das Massaker sei zwar „schrecklich für die Opfer“ gewesen, aber – ABER! – „wann wird Frankreich aufhören, bei der Militarisierung des Planeten mitzumachen?“ [3]

Sie drückt sich in dem zunehmenden Händeringen angesichts befürchteter islamophober Reaktionen auf die Angriffe aus, wenn einige Beobachter vor Gegenschlägen warnen, die „sich aus Verwirrung und Angst speisen“. [4] Das Ganze ist bereits zur Routine nach jedem Terrorakt geworden: Die ersten Wortmeldungen besorgter Beobachter gelten nicht den eigentlichen Opfern des eigentlichen Terrorismus, sondern den möglichen Opfern von Aufständen irgendeines debilen Mobs, der nur in der Fantasie der Kommentatoren existiert. Auch das spricht für einen tiefsitzenden Selbsthass in westlichen Gesellschaften, wo die Medien und die politischen Eliten sich stets davor fürchten, wie ihre eigenen so rätselhaft erscheinenden Mitbürger sich als „verwirrte und ängstliche“ Masse verhalten werden. Sie verurteilen jeglichen Terrorismus, ja – aber sie fürchten sich vor der Gesellschaft, in der sie leben, und verabscheuen die Menschen, unter denen sie leben.
Aktuell mag jene Auffassung, wonach Frankreich selbst schuld sei, wonach die westlichen Länder den „Geschmack der Furcht“ verdient hätten oder wonach das eigentliche Problem nicht diejenigen sind, die über 120 Menschen massakriert haben, sondern die eigene unberechenbare Bevölkerung, die angeblich einen noch viel größeren Blutdurst verspürt, nur vereinzelt vorkommen, aber sie wird sich verbreiten. Es ist das Narrativ, was zurzeit auf jeden Terrorakt im Westen folgt. Vom Charlie Hebdo-Massaker (Sie haben doch provoziert. Also was haben sie erwartet?), den Londoner Bombenanschlägen im Juli 2005 (die hauptsächlich der britischen Außenpolitik zugeschrieben wurden) bis hin zum elften September selbst (von vielen Medien als Vergeltung für die amerikanische Außenpolitik dargestellt): Die Geschichte, die führende linkliberale Beobachter und wichtige Teile der politischen Klasse erzählen, ist immer die gleiche: Der anmaßende, moderne und vermeintlich rassistische Westen mit seiner bewegten Vergangenheit lädt zu diesen Attacken geradezu ein, braucht sie und muss seine Art und Weise, auf sie zu reagieren, ändern – er muss sich entschuldigen, geißeln und selbst verraten.

Es sind genau diese Reaktionen, dieses moralische Durcheinander im modernen Westen, das terroristischen Gruppierungen oder Einzeltätern das Signal sendet, uns zu bestrafen. Sie sind Einladungen zu Angriffen. Besonders das Wechselspiel zwischen dem westlichen Selbsthass und dem Nihilismus islamistischer Gruppierungen ist verheerend. Diese Phänomene sind ein brutaler und gewaltsamer Ausdruck des Abscheus gegenüber der modernen Welt, der seinen Ursprung ebenso in westlichen Universitäten, politischen Kreisen und Medieneliten wie in den unberechenbaren und instabilen Gegenden der islamischen Welt hat. Viele Terrorakte in der westlichen Welt der letzten 15 Jahre wurden von Menschen ausgeführt, die entweder im Westen geboren oder dort erzogen wurden. Aber selbst wenn die Angreifer ausländische Pässe haben oder sogar mit dem Flüchtlingszustrom aus Syrien kamen – wie womöglich einer der Pariser Selbstmordattentäter – ist ihre Fremdartigkeit nicht das Entscheidende. Wichtiger ist die unheilige Verbindung zwischen den nihilistischen jungen Leuten, die mit antimodernen, antiwestlichen Todeskulten wie ISIS sympathisieren, und dem antimodernen, antiwestlichen Todeswunsch des Westens selbst. Auf eine erschreckende und entsetzliche Art und Weise ergänzen sie einander.

„Genug mit der kulturellen Beschwichtigung. Kämpft – und das heißt wirklich, kämpft! – für die Aufklärung“

Nach Paris erwarten uns wahrscheinlich die beiden üblichen Reaktionen auf den Terrorismus. Die eine Seite wird argumentieren, dass wir gegenüber den ausländischen Elementen, die uns töten wollen, nicht hart genug sind und diese daher fortfahren werden, uns zu töten. Die andere Seite wird behaupten, dass wir nicht nett genug zu Minderheiten innerhalb unserer Gesellschaften und Nationen seien, vor allem zu Muslimen. Daher würden uns diese töten wollen. Beide Seiten projizieren den Verfall westlicher Werte und des westlichen Selbstverständnisses entweder auf andere Länder oder auf andere Bürger. Wir haben es mit einem Prozess kultureller Beschwichtigungspolitik zu tun, durch den sich unsere zunehmend von ihren freiheitlichen, demokratischen und aufklärerischen Grundsätzen entfremdeten Gesellschaften dem Aufkommen gefährlicher, zerstörerischer Denkweisen fügen.

Dies zeigt sich etwa, wenn man in Universitäten islamistisches Gedankengut nicht kritisiert; aus Angst, als „islamophob“ bezeichnet zu werden. Es zeigt sich, wenn man aufklärerische Texte oder Ideen klein macht, um nicht eines moralischen Werturteils bezichtigt zu werden. Es zeigt sich aber auch, wenn Schulen dafür kritisiert werden, an christlichen Werten festzuhalten und „andere Kulturen“ –  insbesondere den Islam – nicht hochloben lassen. Dieses Verhalten sendet Signale an das instinktive Aufkommen von Gruppierungen und Denkweisen, sich nicht sich nur mit dem Westen auf einer Ebene sehen, sondern ihn zu verachten. „Warum hassen sie uns?“, fragten einige Leute nach den Anschlägen vom elften September. Die bessere Frage wäre: Warum hassen wir uns selbst?
Die kulturelle Beschwichtigungspolitik muss aufhören. Ja, jeder kann für das einstehen, was er möchte. Und gerade diejenigen, die dafür verantwortlich sind, die Politik und die moralische Verfassung unserer angeblich liberalen, freien Nationen zu bestimmen, müssen sich deshalb genau diese aufklärerischen Werte auf die Fahnen schreiben – ohne falsche Bescheidenheit, urteilend, leidenschaftlich. Die Bombardierung von Anhängern eines Todeskults in Syrien oder das paternalistische Bemitleiden der muslimischen Gemeinschaft bei uns – die beiden üblichen Reaktionen auf jeden Terrorismus – werden nicht dazu beitragen, das moralische Vakuum im Westen zu füllen, das die barbarischen Banden nun für ihre Zwecke nutzen. Nach Paris sollten wir nicht länger zögern.

„Es ist noch zu früh, um die Angriffe zu kommentieren“, sagten einige Linksliberale am Tag des Attentats. Sie wollen nur den richtigen Augenblick abwarten, bevor sie sich der üblichen Rhetorik des Selbsthasses bedienen. Aber es ist nicht zu früh, zu sagen, dass die Anschläge eine abscheuliche Gräueltat waren. Weder der französische Militarismus, noch die vermeintliche Islamophobie kann diese Anschläge rechtfertigen. Nichts vermag dies zu tun. Es war nicht nur ein Angriff auf die Menschen in Paris, sondern auf jeden, der es schätzt, in einer freien und offenen Gesellschaft, in der die Angst keinen Platz hat, zu leben. Lasst uns diese Werte der Freiheit und der Offenheit stärken, ernsthaft und direkt; wütend, wenn wir es müssen, und so dazu beitragen, die moralische Leere schrumpfen zu lassen, in der nihilistische Islamisten ihre blutige Fahne hissen konnten. Genug mit der kulturellen Beschwichtigung. Kämpft – und das heißt wirklich, kämpft! – für die Aufklärung.

Aus dem Englischen übersetzt von Niklas Cron.

Brendan O’Neill ist Chefredakteur des britischen Novo-Partnermagazins Spiked. Dieser Artikel erschien zuerst beim britischen Novo-Partnermagazin Sp!ked. Er basiert auf den Anmerkungen und Kommentaren O’Neills bei einer Debatte am 14. November 2015 – am Tag des Attentats - in Stockholm.

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