Dienstag, 14. Juni 2016

Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch

Harald Martenstein, ein „weißer alter Mann" (Selbstauskunft), schreibt im „Tagesspiegel" und in der „Zeit" Kolumnen und Glossen von einer Art, die man in den genannten Druckerzeugnissen ansonsten selten antrifft. Nicht wenigen Leuten gefällt seine Tonalität, zumal sie niemals ausfallend wird. Für Puristen des Juste Milieu ist er natürlicherweise ein rotes Tuch. Sein Zeitgeist: öfters ein anderer als der ihre. Wenn es noch Reste eines Meinungsspektrums im medialen Mainstreambetrieb gibt, dann wegen Martenstein und ein paar anderen - hallo Jan Fleischhauer!
Foto: Gricha CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

Schon klar: Man kann der Ansicht sein, bei diesen Dissies handele es sich bloß um Alibifiguren. Listig installierte Spoiler an der Karosse des allfälligen Stromlinienjournalismus. Aber besser als nix, oder? Offenlegung: Martenstein gefällt mir. Er gefällt mir sogar sehr.
Kürzlich hat der Mann die Ebene der verwunderten Ironie, auf der er sich gewöhnlich bewegt, in einer Tagesspiegel-Kolumne kurzzeitig verlassen. Im TS firmierte sein Stück vorsätzlich-irrtümlich unter dem Rubrum „Glosse" . Ihm fiele nichts Lustiges ein, wenn er Bilder von kenternden Flüchtlingsbooten sähe, schrieb Martenstein. Und er schrieb auch, dass „den Flüchtlingen und den Auswanderern in ihren Booten zu wenig geholfen wird." Das sei die „Schande Europas". Eine Ansicht, die von vielen AfD-Anhängern womöglich nicht so ganz geteilt wird.
Warum denunziert ihn dann aber ein gewesener „deutscher Studentenfunktionär, Journalist, Autor und Manager" (Wikipedia) wie folgt: „Harald Martenstein wechselt zusehends ins Genre des politischen Leitartikels und gibt dem ‚Tagesspiegel' eine neue Farbe, mit der er den Zuspruch einer wachsenden Zahl von AFD Anhängern finden wird." (Schreibweise aus dem Original-Artikel auf einer Internet-Plattform namens carta.info.)
Bitte einen Moment Geduld – auf den Denunzianten komme ich gleich.
Der Grund ist, dass Martenstein später im Text auch die Vorstellungen einer „Migrationsexpertin" aus einem Interview des TS kritisierte. Die Dame hatte gefordert: „Menschen müssen das Recht auf Mobilität und Freizügigkeit haben." Im Klartext: hoch die Tür für ausnahmslos alle, die zu „uns" kommen wollen. Martenstein leistete sich dazu eine Betrachtung, die für Mieter eines noch halbwegs aufgeräumten Oberstübchens selbstverständlich ist, unter staatlich alimentierten Wolkenkuckucksheimbewohnern aber an Sarrazinismus grenzt:
„Es wäre möglich, mehr zu tun. Nicht möglich ist es allerdings, die Grenzen Europas für alle zu öffnen, die, mit nachvollziehbaren Gründen, herkommen möchten. (...) Ich glaube, dass es in Europa Chaos, Armut und Bürgerkrieg bedeuten würde. Es gibt Milliarden von Menschen, die glauben, hier besser leben zu können als in ihrer Heimat. Wenn ein großer Teil von ihnen kommt, wird Europa nicht mehr das Europa sein, von dem die Einwanderer geträumt haben. Als Erstes würde der Sozialstaat zusammenbrechen, unser System funktioniert nicht auf der Basis einer unbegrenzten Einwanderung. ‚Freizügigkeit für alle' klingt edel, aber niemand kann plausibel machen, wie das funktionieren könnte."
Der Denunziant nennt das implizit: Futter für die AfD. Indem er auf die „renommierten Herausgeber" des Tagesspiegels und die „engagierten Chefredakteure" des (übrigens nicht besonders heiß vom Erfolg geküssten) Blattes verweist, fordert der Denunziant zwar nicht explizit den Rausschmiss von Martenstein.
Aber die Überschrift seines Traktats, so lachhaft sie ist („Martenstein übernimmt den  Tagesspiegel"), insinuiert, ausgerechnet der Tagesspiegel, eine der Hochburgen der merkelfrommen Denkungsart, sei kurz davor, in die Hände eines Kolumnisten zu fallen, der – wörtlich - „Demagogie" betreibe. Martenstein, bislang höchstens ein für gewisse Kreise lästiger, weil eloquent formulierender Querschreiber, wird qua Definition flugs zum politischen Hetzer, Aufwiegler, Volksverführer ernannt. Bisschen viel der Ehre. Lenin hatte da beträchtlich mehr drauf.
Apropos Lenin: Der Martenstein-Denunziant trägt den Namen Franz Sommerfeld. Nie gehört? Ich schon. Aber ich bin ja, wie Martenstein, ebenfalls ein weißer alter Mann und war ebenfalls kurzzeitig in das verstrickt, was man früher „linke Zusammenhänge" nannte.
Bei Sommerfeld währten die Zusammenhänge allerdings ziemlich lang. Als wackerer Ideologe machte er seit den 1970ern Karriere bei der DDR-finanzierten DKP, war Sekretär des DKP-hörigen „Marxistischen Studentenbundes Spartakus", Redakteur des (für mich immer als Spaßlektüre unverzichtbar verhetzten) Studi-Magazins „Rote Blätter". Später raschelte er im Umfeld von DKP-nahen Publikationen wie „Die Tat" und die „Deutsche Volkszeitung" (DVZ) herum. Als die DVZ nach dem Ende ihrer Ostberliner Geldgeber 1989 pleite „und anschließend in der Wochenzeitung ‚Freitag' aufging, gehörte Sommerfeld nach Selbstaussage zu den Neugründern" (Wikipedia). Über das traurige Ende seiner Umlaufbahn durch den realsozialistischen Volksbeglückerorbit mährt sich Sommerfeld gelegentlich im Internet aus. Da kommen einem die Tränen. Vor Lachen.
Dann aber! Kriegt der wendige Sommerfeld rasch die Kurve. 1991 Reporter und 1997 stellvertretender Chefredakteur der „Berliner Zeitung", 1999 Chefredakteur der „Mitteldeutschen Zeitung", 2000 Chef des „Kölner Stadtanzeigers", 2009 Vorstand der Mediengruppe M. Dumont Schauberg und 2014 der – sicherlich - hübsch vergoldete kapitalistische Ruhestand. So macht Kommunismus Spaß!
Zusammengerafft: Ein ehemals maßgebendes Mitglied des westdeutschen SED-Ablegers, nach dessen (natürlich nie auf der Agenda stehenden) Sieg in Westdeutschland jegliche öffentliche Äußerung unterdrückt worden wäre, die nicht SED-konform gewesen wäre, so ein Typ also macht bis heute Stimmung gegen publizistische „Abweichler", wie Dissidenten in dem vom Sommerfeld einst heiß geliebten Ostblock genannt wurden. Was damals ein Berufsverbot als kommodeste Maßnahme inkludierte.
Aber, muss man einen Mann wie Sommerfeld überhaupt ernst nehmen? Sein heutiges Medium carta.info ist unter den politischen Internetportalen ein Nischenprodukt. Doch erinnern wir uns mal an den Fall Klonovsky. Der luzide schreibende Rechtsausleger, mittlerweile fest angestellter Petry-Flüsterer, hatte viele Jahre brav für den „Focus" geackert. Bis ihn linke Denunzianten aus obskuren Netzwerken heraus derart massiv anschifften, dass Klonovsky dem im Zweifel feigen Burda-Verlag nicht länger tragbar erschien.
Sie sind noch da, die Feinde einer offen diskutierenden Gesellschaft. Beziehungsweise schon wieder. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

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