Samstag, 5. September 2015

Religionsfreiheit - "Es tut mir leid, aber meine Religion verbietet es mir"

Religionsfreiheit - Würden Verfassungsrichter auch Nudisten schützen?

Aus dem Kopftuch-Urteil spricht eine Naivität, wie man sie sonst nur in Positionspapieren von Anthroposophen findet. Das Oberste Gericht hat eine ideologisch aufgeladene Entscheidung getroffen.

Wenn es um Glauben und Religion geht, fängt jede Debatte immer wieder bei Null an. Religionsfreiheit zum Beispiel wird als die Freiheit verstanden, sich seine Religion aussuchen zu dürfen, so wie man in einem Sportverein seiner Wahl Mitglied wird oder selber bestimmt, wie man sich ernähren möchte: Fleischig, vegetarisch oder vegan.

Aber Religionsfreiheit ist mehr. Sie bedeutet auch, keine Religion zu haben und von religiösen Zwängen verschont zu bleiben. So wie das Wahlrecht auch die Möglichkeit einer Wahlenthaltung bietet. Dass sich gläubige Menschen in Gotteshäusern versammeln, dient nicht nur dem Wunsch, gemeinsam zu beten. Es ist auch eine Art von Rücksichtnahme gegenüber der Öffentlichkeit.

Beim Beten beobachtet zu werden oder betende Menschen zu beobachten, kann so peinlich sein, wie einem Paar beim Sex zuzusehen, das vergessen hat, die Gardinen zuzuziehen. Exhibitionisten und Voyeure mögen so etwas stimulierend finden, die meisten törnt es eher ab.

"Es tut mir leid, aber meine Religion verbietet es mir"

Nun machen wir in der letzten Zeit eine seltsame Erfahrung: Je weltlicher die Gesellschaft wird, desto mehr nimmt der Respekt vor dem Religiösen zu. Ich mache mir das gelegentlich zunutze; schon als Schüler bin ich oft erst zur dritten Stunde in der Schule erschienen, weil ich es eine Zumutung fand, im Morgengrauen aufstehen müssen.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Statt mich auf Debatten einzulassen, lehne ich Einladungen zu vormittäglichen Events mit einem Satz ab: "Es tut mir leid, aber meine Religion verbietet es mir, vor zehn Uhr aufzustehen." Je nach Situation kann es auch elf oder zwölf Uhr sein. Und es funktioniert. Keiner fragt, was das für eine Religion ist, die mir das frühe Aufstehen verbietet, denn niemand möchte meine religiösen Gefühle verletzten.

Nach und nach erweitere ich mein Programm. Ich esse fast, aber eben nicht alles. Tofu, Rohkost, Müsli, Sushi und Labskaus sind mir ein Gräuel. Weil aber nur Laktose-Intoleranz und Gluten-Allergie zu den anerkannten Ablehnungsgründen zählen und weil ich nicht unhöflich sein will, sage ich lieber: "Es tut mir leid, ich esse nur koscher" bzw. "halal", wenn ich das Gefühl habe, dass meine Gastgeber eher Islamophile als Philosemiten sind. Und weil die meisten Leute keine Ahnung haben, was "koscher" oder "halal" wirklich bedeutet, außer dass es das neue Bio ist, komme ich damit durch.

Wo setzt der gesunde Menschenverstand ein?

Ich finde das einerseits sehr praktisch, andererseits aber auch erschreckend. Wo hört der Respekt vor der Religion auf und wo setzt der gesunde Menschenverstand ein? Vor Jahren besuchte ich in Boston eine "Kirche", an deren Spitze ein "Reverend" stand, dem im Traum ein Wesen erschienen war und ihm den Auftrag gegeben hatte, die Erde zu retten. Die Menschheit sollte aufhören, sich zu vermehren.

Das einzige Gebot dieser Glaubensgemeinschaft war: "Thou shalt not procreate" - Du sollst dich nicht fortpflanzen. Zu diesem Zweck propagierte die "Church of Euthanasia" u.a. Selbstmord, Abtreibung, Kannibalismus und Analsex als Mittel der Bevölkerungsreduktion. Obwohl die Kirche nur einige Hundert Mitglieder zählte, war sie als Glaubensgemeinschaft anerkannt. Spenden konnten von der Steuer abgesetzt werden.

Es gibt in den USA auch Nudistenvereinigungen, die sich als Kirchen konstituiert haben. Selbstverständlich haben die Gläubigen bei den Andachten nichts an. Man mag das albern, absurd oder abwegig finden, aber es kann für alles eine theologische Erklärung geben. Nur im Zustand völliger Nacktheit sind alle Menschen wirklich gleich.

Aus dem Kopftuch-Urteil spricht Naivität

Ich würde gerne die Begründung lesen, mit der das Bundesverfassungsgericht einem deutschen Ableger der "Church of Euthanasia" oder einer Nudistenkirche die Anerkennung als Glaubensgemeinschaft verweigert. Vermutlich mit Hinweis auf die guten Sitten und das moralische Empfinden der Bevölkerungsmehrheit. Beim Kopftuchurteil hat das Oberste Gericht der Bundesrepublik anders argumentiert.

Nicht nur juristisch, wobei es sich eine klare Bewertung des Kopftuches versagte, sondern auch pädagogisch. Es sei gerade die Aufgabe der Gemeinschaftsschule, "den Schülerinnen und Schülern Toleranz auch gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen zu vermitteln".

Und: "Dieses Ideal muss gelebt werden dürfen, auch durch das Tragen von Bekleidung, die mit Religionen in Verbindung gebracht wird, wie neben dem Kopftuch etwa die jüdische Kippa, das Nonnen-Habit oder auch Symbole, wie das sichtbar getragene Kreuz." Vom Tragen eines islamischen Kopftuchs gehe "für sich genommen noch kein werbender oder gar missionierender Effekt aus". Umgekehrt gebe es keine Rechtfertigung "für eine Bevorzugung christlich und jüdisch verankerter religiöser Bekundungen".

Aus dem Urteil spricht eine Naivität, wie man sie sonst nur in Positionspapieren von Anthroposophen findet. Allein der Satz: "Dieses Ideal muss gelebt werden dürfen" zeigt, wie ideologisch aufgeladen die Entscheidung ist. Es ist nicht Aufgabe der Verfassungsrichter, Ideale festzulegen. Immerhin haben zwei Richter des Ersten Senats in einer "abweichenden Meinung" der Ansicht ihrer Kollegen widersprochen. Ein Umstand, der in der Berichterstattung übergangen wurde und der dafür spricht, wie schwer sich Juristen mit der Frage tun, was ein Kopftuch von einem Kreuz oder einer Kippa unterscheidet.

Von "Nonnen-Habit" geht kein Gefühl der Bedrohung aus

Auf diese Frage kann es in der Tat nur eine politische und keine juristische Antwort geben. Statt zu verkünden, der Islam gehört zu Deutschland, ohne darüber nachzudenken, dass damit auch Zwangs- und Kinderehen, Unterdrückung der Frauen, Polygamie und praktizierte Homophobie zu Deutschland gehören, könnte ein Politiker aufstehen und sagen:

"Mal langsam Leute. Auch wenn viele Deutsche das Abendmahl für eine Reality Show auf RTL 2 halten, Deutschland ist und bleibt ein christlich grundiertes Land. Deswegen feiern wir Ostern, Pfingsten und Weihnachten, Mariä Empfängnis und Christi Himmelfahrt. Das macht unsere Kultur aus. Wäre dem nicht so, könnten wir diese Feiertage abschaffen und es jedem überlassen, was er wann feiern will. Dann könnte auch der Sonntag auf den Dienstag verlegt werden. Andererseits wird niemand daran gehindert, die Feiertage zu begehen, die zu seiner Kultur gehören, es steht ihm frei, an Ramadan zu fasten oder während der Pessach-Tage nur ungesäuertes Brot zu essen. Oder am Ersten Mai ins Grüne zu fahren, statt an einer DGB-Demo teilzunehmen. Das ist der Sinn der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit."

In diesem Zusammenhang wäre auch ein Hinweis darauf angebracht, was das Kopftuch von einem, wie es das Bundesverfassungsgericht nennt, "Nonnen-Habit" unterscheidet. Von einem "Nonnen-Habit" geht kein Gefühl der Bedrohung aus, es ist auch kein Fall bekannt, dass eine junge christliche Frau mit Gewalt in ein Kloster verschleppt worden wäre, um dort Jesus angetraut zu werden. Man sieht auch keine zehnjährigen Mädchen im "Nonnen-Habit" auf den Straßen, aber immer mehr Zehnjährige mit Kopftuch, die gerne bestätigen, dass sie es "freiwillig" tragen.

Und so wie uns immer wieder gesagt wird, dass wir differenzieren sollten, weil es den "einen Islam" nicht gibt, gibt es auch nicht den einen Grund, das Kopftuch zu tragen. Mal ist es Ausdruck einer religiösen Haltung, mal ein modisches Accessoire, das farblich zum Rest der Kleidung passen sollte. Manche jungen Frauen tragen es, weil deren Eltern es sich wünschen, andere, um ihre Eltern zu ärgern. Oder weil sie sich "oben ohne" nackt fühlen.

Es angesichts einer solchen Beliebigkeit zu einem Symbol der Glaubensfreiheit zu erklären, das gesetzlich geschützt werden muss, zeigt nur, dass dieser Gesellschaft die Vernunft abhanden gekommen ist. Wie wäre es denn, wenn irgendeine Glaubensgemeinschaft High Heels und Plateau-Schuhe zum Zeichen ihres Strebens nach Höheren wählen und darauf bestehen würde, dass sie auch im Sportunterricht getragen werden?

Auch dieses Ideal, finde ich, muss gelebt werden dürfen.

Quelle: welt/Henryk M. Broder

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