Die Übergriffe auf Frauen haben auch etwas mit dem Islam zu tun, sagt Hamed Abdel-Samad. Die strenge Sexualmoral, die Hierarchisierung und Geschlechterapartheid schlage sich oft ins Gegenteil um. Eine Religion, die die Frau entweder als Besitz oder Gefahr sieht, ist Teil des Problems
Man muss nicht zu jedem Thema Stellung beziehen. Vor allem, wenn noch nicht alle Fakten und Details auf dem Tisch liegen. Ich habe mich bis jetzt zu den Ereignissen in Köln nicht geäußert, weil mir dieses Thema emotional nahegeht, und ich lieber meine Meinung sage, statt mein Empfinden publik zu machen. Dennoch will ich ein paar Worte zum Thema der sexuellen Belästigung insgesamt verlieren.
Ich komme aus Ägypten, wo sexuelle Belästigung für Frauen ein unerträgliches Ausmaß erreicht hatte, weil man dieses Phänomen am Anfang entweder verschwiegen oder verharmlost hatte. Zum einen wollte man nicht zugeben, dass in einer vermeintlich moralisch-religiösen Gesellschaft viele Frauen sexuell belästigt werden. Zum anderen hatte man Angst um den Tourismus, der eine der Hauptquellen des Einkommens des Landes ist. Man ging sogar noch weiter und machte die Opfer selbst für das Phänomen verantwortlich. Wegen ihrer Art, sich zu kleiden. Die Verlogenheit und die Angst um das eigene Image hatten dazu geführt, dass aus einem kleinen Phänomen eine Epidemie geworden ist. Über 95 Prozent aller Ägypterinnen berichten heute von alltäglichen Erfahrungen mit sexueller Belästigung und Nötigung.
Das hat nichts mit dem Islam zu tun?
Ich habe in meinen Büchern versucht, die Ursachen dieser Epidemie zu erklären. Vor allem bin ich der Frage nachgegangen, inwieweit das Phänomen mit dem Islam zu tun hat.
Ich war in Ägypten und Marokko Zeuge einiger Fälle kollektiver Belästigung. Fast ausnahmslos handelte es sich dabei nicht um religiöse Jugendliche, sondern um kleine Gruppen, die oft unter Drogeneinfluss standen. Es ist einem gläubigen Muslim untersagt, eine fremde Frau anzufassen, sogar wenn sie die eigene Verlobte ist. Strenggläubigen Muslimen ist es sogar untersagt, einer Frau die Hand zu geben. Salafisten in Ägypten meinen sogar, dass ein Mann im Bus den Sitz nicht einnehmen darf, den eine Frau gerade verlassen hat, weil die Wärme ihres Körpers ihn sexuell erregen könnte.
Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, kann man nicht sagen, dass die sexuelle Belästigung nichts mit dem Islam zu tun hat. Denn diese strenge Sexualmoral, die Hierarchisierung und die Geschlechterapartheid schlägt sich auch oft ins Gegenteil um. Eine Religion, die die Frau entweder als Besitz des Mannes oder als eine Gefahr für seine Moral sieht, ist mitverantwortlich.
Vor 40 Jahren trug kaum eine Frau in Kairo ein Kopftuch. Öffentliche sexuelle Belästigung gab es damals so gut wie nie. Heute ist kaum eine Frau unverschleiert und dennoch werden Frauen auf offener Straße bedrängt und begrapscht. Das gilt für Iran, Afghanistan, Pakistan und genauso für die meisten anderen islamischen Länder, die auf der Top-Liste der sexuellen Belästigung in der Welt ganz oben stehen. Auch im reichen Saudi-Arabien ist das Phänomen weit verbreitet. Man könnte hier einen direkten Zusammenhang zwischen Verschleierung und sexueller Belästigung vermuten. Es hat mit dem real existierenden Islam zu tun, aber nicht nur. Denn auch in Indien ist diese Epidemie weit verbreitet. Es hat in erster Linie mit Hierarchie zu tun und mit einer Kultur, in der Frauen als minderwertig angesehen werden. Deshalb darf Indien nicht als Beispiel benutzt werden, um das Problem unter Muslimen zu relativieren.
Pornosternchen aus dem Internet
Die junge Generation in der islamischen Welt ist in einer Dualität aufgewachsen. Zuhause und in der Moschee wird sie moralisch streng erzogen. Männer und Frauen haben kaum eine Chance, eine gesunde, symmetrische Beziehung zueinander aufzubauen. Im Internet dagegen erleben sie eine Welt, in der es keine Grenzen zwischen Mann und Frau, in der es keine festgeschriebene Moral gibt. Islamische Länder sind beim Konsum von Porno-Videos ganz oben auf der Liste. Diese Dualität schafft ein gestörtes Verhältnis der Männer zu Frauen. Von dieser Dualität sind auch viele junge Muslime betroffen, die in geschlossenen Communities in Europa leben und dennoch den Verführungen einer offenen Gesellschaft ausgesetzt sind.
Wir erleben seit Jahren Auflösungserscheinungen in der arabischen Welt. Das führt zu mehr Individualisierung. Durch Auflösungs- und Individualisierungsprozesse wurden vier Phänomene beschleunigt: der Terrorismus, die Protestbewegung, die Auswanderung und die sexuelle Belästigung. Alle vier Phänomene sind zurückzuführen auf den rasanten gesellschaftlichen Wandel. Weder der Staat noch die Familie können Versprechen gegenüber den eigenen Untertanen beziehungsweise Mitgliedern noch erfüllen. Weder Staat noch Familie haben ihre Untertanen mehr im Griff. Alle vier Gruppen fühlen sich von den eigenen Ländern und von der ganzen Welt um ihr Recht auf ein würdiges Leben beraubt. Also gehen sie auf die Straße oder ins Meer und wollen mit der eigenen Hand das holen, was ihnen vermeintlich zusteht.
Viele junge Araber verlassen ihre zugrunde gehenden Länder und kommen nach Europa. Die Mehrheit von ihnen will nur in Frieden und Wohlstand leben. Aber viele von ihnen kommen auch mit der Seuche der Dualität im Gepäck: mit der Hoffnung auf Europa und der Verachtung seiner Werte. Mit konservativer Moralvorstellung und dem Wunsch nach Freiheit und Freizügigkeit. Da ihnen im Westen dann plötzlich die Gemeinschaft fehlt, die ihr moralisches Verhalten überwachen kann, flippen sie aus, organisieren sich in Kleingruppen und bilden Ersatzgemeinschaften. Die einen werden Salafisten, die anderen werden Dealer, Straßendiebe oder Frauenbegrapscher. Die einen sehen in den europäischen Männern nur die Kreuzritter, die den Islam zerstören wollen, die anderen sehen in den Frauen nur die Pornosternchen, die sie früher im Internet gesehen haben.
Wir müssen reden!
Deutschland darf nun den Fehler nicht wiederholen, den Ägypten begangen hat. Aus Angst vor Generalverdacht und Missbrauch vom rechten Rand hält man Hinweise zurück. Natürlich, nicht alle Muslime und nicht alle Flüchtlinge dürfen für das Verbrechen einer kleinen Gruppe verantwortlich gemacht werden, aber genau diese Mehrheit der Muslime ist nun gefragt, sich endlich diesen Problemen der eigenen Communities zu widmen. Statt nach jedem Vorfall die eigentlichen Opfer zu vergessen und sich selbst und ihren friedlichen Islam als Opfer zu titulieren! Ich wünsche mir mehr Ehrlichkeit in Bezug auf die Sexualmoral und das Gewaltpotential im Islam.
Und wenn Deutschland nicht will, dass die Themen Islam und Flüchtlinge vom rechten Rand instrumentalisiert werden, dann muss man endlich diese Themen in die Mitte der Gesellschaft tragen und offen und ehrlich darüber reden! Ob Fundamentalismus oder sexuelle Belästigung, ob Integrationsverweigerung oder Kriminalität – wir haben ernsthafte Probleme. Vertuschen und Schönreden macht alles nur noch schlimmer!
Frau Merkel, Herr Innenminister, übernehmen Sie!
Hamed Abdel-Samad fordert eine offene Debatte über die konservative Sexualmoral im Islam picture alliance |
Ich komme aus Ägypten, wo sexuelle Belästigung für Frauen ein unerträgliches Ausmaß erreicht hatte, weil man dieses Phänomen am Anfang entweder verschwiegen oder verharmlost hatte. Zum einen wollte man nicht zugeben, dass in einer vermeintlich moralisch-religiösen Gesellschaft viele Frauen sexuell belästigt werden. Zum anderen hatte man Angst um den Tourismus, der eine der Hauptquellen des Einkommens des Landes ist. Man ging sogar noch weiter und machte die Opfer selbst für das Phänomen verantwortlich. Wegen ihrer Art, sich zu kleiden. Die Verlogenheit und die Angst um das eigene Image hatten dazu geführt, dass aus einem kleinen Phänomen eine Epidemie geworden ist. Über 95 Prozent aller Ägypterinnen berichten heute von alltäglichen Erfahrungen mit sexueller Belästigung und Nötigung.
Das hat nichts mit dem Islam zu tun?
Ich habe in meinen Büchern versucht, die Ursachen dieser Epidemie zu erklären. Vor allem bin ich der Frage nachgegangen, inwieweit das Phänomen mit dem Islam zu tun hat.Ich war in Ägypten und Marokko Zeuge einiger Fälle kollektiver Belästigung. Fast ausnahmslos handelte es sich dabei nicht um religiöse Jugendliche, sondern um kleine Gruppen, die oft unter Drogeneinfluss standen. Es ist einem gläubigen Muslim untersagt, eine fremde Frau anzufassen, sogar wenn sie die eigene Verlobte ist. Strenggläubigen Muslimen ist es sogar untersagt, einer Frau die Hand zu geben. Salafisten in Ägypten meinen sogar, dass ein Mann im Bus den Sitz nicht einnehmen darf, den eine Frau gerade verlassen hat, weil die Wärme ihres Körpers ihn sexuell erregen könnte.
Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, kann man nicht sagen, dass die sexuelle Belästigung nichts mit dem Islam zu tun hat. Denn diese strenge Sexualmoral, die Hierarchisierung und die Geschlechterapartheid schlägt sich auch oft ins Gegenteil um. Eine Religion, die die Frau entweder als Besitz des Mannes oder als eine Gefahr für seine Moral sieht, ist mitverantwortlich.
Vor 40 Jahren trug kaum eine Frau in Kairo ein Kopftuch. Öffentliche sexuelle Belästigung gab es damals so gut wie nie. Heute ist kaum eine Frau unverschleiert und dennoch werden Frauen auf offener Straße bedrängt und begrapscht. Das gilt für Iran, Afghanistan, Pakistan und genauso für die meisten anderen islamischen Länder, die auf der Top-Liste der sexuellen Belästigung in der Welt ganz oben stehen. Auch im reichen Saudi-Arabien ist das Phänomen weit verbreitet. Man könnte hier einen direkten Zusammenhang zwischen Verschleierung und sexueller Belästigung vermuten. Es hat mit dem real existierenden Islam zu tun, aber nicht nur. Denn auch in Indien ist diese Epidemie weit verbreitet. Es hat in erster Linie mit Hierarchie zu tun und mit einer Kultur, in der Frauen als minderwertig angesehen werden. Deshalb darf Indien nicht als Beispiel benutzt werden, um das Problem unter Muslimen zu relativieren.
Pornosternchen aus dem Internet
Die junge Generation in der islamischen Welt ist in einer Dualität aufgewachsen. Zuhause und in der Moschee wird sie moralisch streng erzogen. Männer und Frauen haben kaum eine Chance, eine gesunde, symmetrische Beziehung zueinander aufzubauen. Im Internet dagegen erleben sie eine Welt, in der es keine Grenzen zwischen Mann und Frau, in der es keine festgeschriebene Moral gibt. Islamische Länder sind beim Konsum von Porno-Videos ganz oben auf der Liste. Diese Dualität schafft ein gestörtes Verhältnis der Männer zu Frauen. Von dieser Dualität sind auch viele junge Muslime betroffen, die in geschlossenen Communities in Europa leben und dennoch den Verführungen einer offenen Gesellschaft ausgesetzt sind. Wir erleben seit Jahren Auflösungserscheinungen in der arabischen Welt. Das führt zu mehr Individualisierung. Durch Auflösungs- und Individualisierungsprozesse wurden vier Phänomene beschleunigt: der Terrorismus, die Protestbewegung, die Auswanderung und die sexuelle Belästigung. Alle vier Phänomene sind zurückzuführen auf den rasanten gesellschaftlichen Wandel. Weder der Staat noch die Familie können Versprechen gegenüber den eigenen Untertanen beziehungsweise Mitgliedern noch erfüllen. Weder Staat noch Familie haben ihre Untertanen mehr im Griff. Alle vier Gruppen fühlen sich von den eigenen Ländern und von der ganzen Welt um ihr Recht auf ein würdiges Leben beraubt. Also gehen sie auf die Straße oder ins Meer und wollen mit der eigenen Hand das holen, was ihnen vermeintlich zusteht.
Viele junge Araber verlassen ihre zugrunde gehenden Länder und kommen nach Europa. Die Mehrheit von ihnen will nur in Frieden und Wohlstand leben. Aber viele von ihnen kommen auch mit der Seuche der Dualität im Gepäck: mit der Hoffnung auf Europa und der Verachtung seiner Werte. Mit konservativer Moralvorstellung und dem Wunsch nach Freiheit und Freizügigkeit. Da ihnen im Westen dann plötzlich die Gemeinschaft fehlt, die ihr moralisches Verhalten überwachen kann, flippen sie aus, organisieren sich in Kleingruppen und bilden Ersatzgemeinschaften. Die einen werden Salafisten, die anderen werden Dealer, Straßendiebe oder Frauenbegrapscher. Die einen sehen in den europäischen Männern nur die Kreuzritter, die den Islam zerstören wollen, die anderen sehen in den Frauen nur die Pornosternchen, die sie früher im Internet gesehen haben.
Wir müssen reden!
Deutschland darf nun den Fehler nicht wiederholen, den Ägypten begangen hat. Aus Angst vor Generalverdacht und Missbrauch vom rechten Rand hält man Hinweise zurück. Natürlich, nicht alle Muslime und nicht alle Flüchtlinge dürfen für das Verbrechen einer kleinen Gruppe verantwortlich gemacht werden, aber genau diese Mehrheit der Muslime ist nun gefragt, sich endlich diesen Problemen der eigenen Communities zu widmen. Statt nach jedem Vorfall die eigentlichen Opfer zu vergessen und sich selbst und ihren friedlichen Islam als Opfer zu titulieren! Ich wünsche mir mehr Ehrlichkeit in Bezug auf die Sexualmoral und das Gewaltpotential im Islam.Und wenn Deutschland nicht will, dass die Themen Islam und Flüchtlinge vom rechten Rand instrumentalisiert werden, dann muss man endlich diese Themen in die Mitte der Gesellschaft tragen und offen und ehrlich darüber reden! Ob Fundamentalismus oder sexuelle Belästigung, ob Integrationsverweigerung oder Kriminalität – wir haben ernsthafte Probleme. Vertuschen und Schönreden macht alles nur noch schlimmer!
Frau Merkel, Herr Innenminister, übernehmen Sie!
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