Freitag, 11. Dezember 2015

Flüchtlingskrise - Herbst der Kanzlerin. Geschichte eines Staatsversagens

 Wenn es November wird in Deutschland, irrt Germania öfter mal im Nebel umher. Erster Frost legt sich aufs Land, Wege und Straßen verschwinden unter Bergen von Blättern, es dunkelt mächtig. Plötzlich geschehen ungeheure Dinge, auch ungeheuerliche: Kriege enden, Kaiser danken ab, Bürgerkriege brechen aus. Fenster splittern, Menschen werden gejagt. Der deutsche November riecht nach heißer Asche, Angstschweiß und modrigem Laub.

Im "deutschen Herbst" verwandelte sich die Bundesrepublik 1977 in die Heimat der German Angst. Terroristen hatten Hanns Martin Schleyer und 83 Passagiere der Lufthansamaschine "Landshut" in Geiselhaft genommen – und die zivile Gesellschaft gleich mit. Aber 12 Jahre später triumphierte die Freiheit im geteilten Land, der kalte November 1989 wurde unverhofft zum schönsten deutschen Herbst aller Zeiten. Im November muss man hierzulande stets auf Weltgeschichte gefasst sein.

Nun ist es wieder so weit, Deutschland macht mal wieder Geschichte. Doch es sieht nicht so aus, als folgte auf das Sommermärchen 2015 ein Herbst, über den sich das Land so freuen könnte wie über den Herbst 1989. Damals fielen Mauern. Heute wünschen sich viele Menschen eine robuste Staatsgrenze zurück.

Regeln des Asylrechts werden nicht mehr befolgt

Denn unsere Grenzen sind nicht mehr viel wert. Manche Gesetze auch nicht. Das Asylrecht sagt klipp und klar: Wer als Flüchtling aus einem sicheren Land kommt, hat kein Recht auf Einlass. Doch daran hält sich niemand mehr, allen voran die Kanzlerin. Sie beruft sich auf das grenzenlose Schengen-Europa. Flüchtlingsnot kennt kein Gebot: "Wir können die Grenzen nicht schließen. Wenn man einen Zaun baut, werden sich die Menschen andere Wege suchen", erklärt Merkel. Auf gut Deutsch: Da kannste machen nüscht.

Und die Justiz hört die Botschaft. Das Amtsgericht Passau begründete am vorigen Donnerstag sein mildes Urteil, zwei Jahre auf Bewährung , gegen einen serbischen Schleuser so: "Angesichts der Zustände an den Grenzen ist die Rechtsordnung von der deutschen Politik ausgesetzt." Und weiter: "Asylsuchende werden von der deutschen Bundeskanzlerin eingeladen nach Deutschland zu kommen." Der Angeklagte habe Glück, dass seine Verhandlung nicht vor zwei Monaten stattfand. "Eine unbedingte Haftstrafe von zwei Jahren wäre hier wahrscheinlich gewesen." So klingt es, wenn Richter kapitulieren.
Und die Welt hört Merkels Botschaft auch, zumal in den Krisenzonen. Auf nach Deutschland, wo all das wartet, was dort fehlt: Wohlstand, Recht, Frieden. Wer jetzt nicht geht, ist dumm. Irgendwann, die Leute ahnen es, wird das Tor sich wieder schließen. Ein gewaltiger Zug setzt sich in Bewegung, und er reißt nicht ab. Täglich überschreiten Tausende Menschen aus aller Herren Länder auf der Suche nach einem besseren Leben die österreichisch-deutsche Grenze in Simbach, Neuhaus, Freilassing, Laufen und Wegscheid. Deutschland am Scheideweg.

Das Land ist gespalten wie lange nicht. Die Frage, wie viel Entgrenzung diese Republik aushält, entzweit Familien, Freunde und Parteifreunde. In den sozialen Netzwerken und auf der Straße beschimpfen Gegner und Befürworter der Kanzlerin einander und unterstellen sich gegenseitig finsterste Absichten. Auf AfD-Kundgebungen wird die Regierung verdächtigt, einen Plan der "Umvolkung" Deutschlands zu betreiben. Und umgekehrt werden Kritiker der Regierungslinie schnell in die rechte Ecke gestellt, wenn sie Merkels Diktum "Wir schaffen das" bezweifeln.

Zwar hat sich die große Koalition vor drei Tagen auf die Einrichtung von Registrierungszentren geeinigt, nach wochenlangen Querelen. Doch die Tinte unter der Vereinbarung ist noch nicht trocken, da werden schon wieder Risse in der Regierung sichtbar. Innenminister Thomas de Maizière verkündet am Freitagabend am Rande eines Besuchs in Albanien, syrischen Flüchtlingen ab sofort nur "subsidiären Schutz – das heißt zeitlich begrenzt und ohne Familiennachzug" zu gewähren. Wenige Stunden später nimmt er die Ankündigung wieder zurück – auf Druck des Kanzleramts und der SPD. Es gebe "Gesprächsbedarf" in der Koalition, betont de Maizière nach der Kehrtwende. Im Klartext: Über die Flüchtlingspolitik wird im Kabinett noch immer heftig gestritten.

Am Ansturm Hunderttausender auf Deutschland ändern sämtliche Berliner Vereinbarungen sowieso nichts. Mit ihrer Politik der offenen Grenzen ohne Obergrenze geht die Kanzlerin in Europa einen deutschen Sonderweg: Während sie sich hierzulande für das "freundliche Gesicht" der Bundesrepublik feiern lässt, schütteln die Staatenlenker in Rom, Paris, London, Warschau, Wien, Budapest und Zagreb die Köpfe. Nur Schweden hat eine ähnlich großzügige Flüchtlingspolitik betrieben wie Berlin heute.

Doch auch dort verdüstert sich die Stimmung. Migrationsminister Morgan Johansson zog jetzt die Reißleine: "Wir haben die Grenze des Machbaren erreicht." Der schwedische Sozialdemokrat sagt den Satz, den Merkel verweigert. Und er fordert die Flüchtlinge auf: "Bleibt in Deutschland." Die Lage in Schweden droht wegen der Masseneinwanderung außer Kontrolle zu geraten. Allein in Malmö detonierten dieses Jahr 30 Handgranaten im Zuge ethnischer Konflikte. Deutsche Dienste fürchten, Schwedens schwierige Gegenwart könnte unsere Zukunft sein.

Die Integration von Millionen Flüchtlingen sei "nicht zu schaffen", heißt es in einer Analyse, die im Bundesinnenministerium zirkuliert. Und: "Wir importieren islamistischen Extremismus, arabischen Antisemitismus, nationale und ethnische Konflikte anderer Völker. Wir importieren ein anderes Rechts- und Gesellschaftsverständnis." Was der anonyme Autor denkt, befürchten viele Mitarbeiter des BND, des Verfassungsschutzes, des Bundeskriminalamts und der Bundespolizei.

Im Ausland macht man sich über die teutonische Hybris lustig. Berlin wolle die Welt retten, witzelt man in Warschau und London. Eine stehende Redewendung deutscher Politik lautet: Wir müssen die Fluchtursachen beseitigen. Doch geht das überhaupt? Fast 15 Jahre lang hat die Bundeswehr genau das in Afghanistan versucht. Doch am Ende sind die archaischen Beharrungskräfte stärker als aller gut gemeinte Interventionismus.

Auch die Annahme, Deutschland könne unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen, deutet auf ein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit. Wie das gehen sollte, ist unklar, alle Fragen sind offen: Wie viele Flüchtlinge leben eigentlich in Deutschland? Wie viele kommen 2016? Wohin sollen sie gehen? Wo werden sie arbeiten? Werden sie sich integrieren? Und was passiert, wenn sich ein Teil von ihnen nicht an deutsche Gesetze und republikanische Werte halten will?
Keine dieser Fragen kann die Regierung beantworten. "Wir schaffen das!", trompetet die Kanzlerin. Doch immer weniger Deutsche glauben ihr. 68 Prozent der Bürger erwarten, dass der innere Frieden im Land sich verschlechtern werde, wenn der Zuzug von Flüchtlingen im bisherigen Ausmaß weiter anhält. Ebenso viele befürworten eine Obergrenze, wie eine aktuelle Umfrage zeigt – ein Alarmsignal für die Politik. Die Republik steckt in einer der schwersten Krisen ihrer Geschichte, aber der Satz "Wir können nicht mehr" kommt der Kanzlerin nicht über die Lippen.

Dabei ist es eine Krise mit Ansage. Zwar konnte die nie da gewesene Dimension dieser Flucht niemand vorhersehen, aber dass sich etwas Außergewöhnliches anbahnte, war früh klar. Recherchen der "Welt am Sonntag" ergeben, dass die Bundesregierung sehenden Auges in diesen Notstand gerasselt ist. Immer wieder haben Sicherheitsbehörden, deutsche Botschaften und hohe Beamte die Kanzlerin und den Innenminister gewarnt – vergebens. Notwendige Maßnahmen wurden nicht umgesetzt, aus politischen Gründen ignoriert oder schlicht verschlampt. Die Geschichte der Flüchtlingskrise ist vor allem die Geschichte eines Staatsversagens.

Sommer 2014: So ein attraktives Land

Deutschland feiert, und die Welt feiert Deutschland. Mit einem atemberaubenden 7:1 fegt die Nationalmannschaft den WM-Gastgeber Brasilien vom Feld. Kroos, Schürrle, Müller, Klose, Khedira. Dann das Finale gegen Argentinien. Mario Götze gelingt aus der Drehung das Traumtor zum Sieg. Wir müssen uns kneifen – wo ist es hin, das verdruckste, spießige, garstige Land all der Deutschlandklischees?

Anders gesagt, als die ersten Flüchtlinge kommen, hat die deutsche Politik allerbeste Karten. Ein gut gelauntes, weltoffenes Volk. Wie sehr es bereit ist, Menschen in Not die Hand zu reichen, wird es beweisen. Die Politik hat aber auch darum gute Karten, weil sie auf einen gut informierten Apparat zurückgreifen kann. Schon 2014 gibt es Warnungen, dass die Zahl der Zuwanderer die Kräfte der Bundesrepublik übersteigen könnte. Länder und Kommunen haben für die Unterbringung und Verpflegung zu sorgen. Sie spüren jeden Tag, dass immer mehr kommen.

Viele Erstaufnahmestellen sind schon voll. Feldbetten werden aufgestellt, notdürftig schaffen Helfer Essen heran. Nichts deutet auf eine Entspannung der Lage hin: Vom Balkan kommen jedes Jahr Zehntausende – raus aus der Armut dort. Und dann ist da der Krieg in Syrien und im Nordirak. Millionen sind in Nachbarländer geflüchtet. Die Lagebilder der Sicherheitsbehörden schlagen Alarm. Die Zahl illegaler Grenzübertritte steigt und steigt. Laut sprechen die Minister das Problem aber nicht an. Es gibt andere Themen, auf die sich Politik und Medien stürzen. Russland tobt sich in der Ukraine aus. Am 17. Juli schießen Separatisten eine Boeing 777 mit fast 300 Menschen vom Himmel. Die Terrormiliz "Islamischer Staat" rückt immer weiter vor.

Die Flüchtlingskrise geht im Trubel unter, die Warner will niemand hören. Der Präsident der Bundespolizei Dieter Romann spricht offen aus, dass Italien und Griechenland die EU-Außengrenze nicht mehr absichern. Deren Schutz ist aber die Bedingung für den grenzenlosen Schengen-Raum – und sie existiert faktisch nicht mehr. Auch Kommunen und Länder halten nicht mehr still. Hessens Sozialminister Stefan Grüttner beschwert sich beim Nürnberger Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Das BAMF sollte das Frühwarnsystem sein. Die Behörde, die dem Bundesinnenministerium unterstellt ist, schätzt regelmäßig die Flüchtlingszahlen. Ihre Prognosen sind wichtig für Länder und Kommunen. Sie sagen, auf wie viele Unterbringungsplätze man sich einstellen muss. Hessens CDU-Minister hält die Prognosen für viel zu niedrig, er weist explizit auf die Lage in Syrien und im Irak hin. Es kommen seiner Ansicht nach viel mehr Asylsuchende an, als das BAMF glaubt.

Herbst 2014: So ein loyaler Minister

Thomas de Maizière ahnt, was auf ihn zukommt: "Die aktuelle Lage ist extrem angespannt", sagt der Bundesinnenminister mit Blick auf die Flüchtlingszahlen im September. Er ist zuständig. Er ist ein ernster Mensch. Der Jurist liebt die Welt der Paragrafen und Verordnungen. Funktioniert die Bürokratie, macht ihn das glücklich. Was aber, wenn die Lage außer Kontrolle gerät? Verwaltungen hätten für ihn die Aufgabe, den politischen Willen umzusetzen, hat er mal in einem Interview gesagt.

De Maizière will die brodelnde Flüchtlingskrise unter Kontrolle bringen. Er schiebt erste Asylverschärfungen an. Die Idee: Kriegsflüchtlinge rein, Wirtschaftsflüchtlinge raus. In Europa sucht er Verbündete. Doch die meisten Staaten lehnen ab. Sie sind heilfroh, dass die meisten Flüchtlinge nicht bei ihnen bleiben wollen. Deutschland mag die Ukraine-Krise managen und Europa den Ausweg aus der Finanzkrise diktieren – in der Flüchtlingskrise steht Berlin ziemlich machtlos da.

De Maizière hat Zeit gebraucht, um in seinem neuen Amt anzukommen. Eigentlich wollte er Verteidigungsminister bleiben, doch Ursula von der Leyen verdrängte ihn. Ähnlich erging es der neuen beamteten Staatssekretärin im Innenressort, der nach dem Minister wichtigsten Person im Haus. Emily Haber kommt aus dem Auswärtigen Amt. Sie musste, heißt es, erst vom Kanzleramt überzeugt werden, die große Welt der Diplomatie gegen die oft harschen Umgangsformen im Innenministerium einzutauschen. Ausgerechnet zwei der wichtigsten Akteure in der Flüchtlingskrise haderten mit ihrer neuen Aufgabe.
Schon jetzt, im Herbst 2014, reichen Zelte, Boote, Turnhallen nicht mehr, um all die Flüchtlinge unterzubringen. Das Kanzleramt reagiert wie immer, wenn sich die Lage zuspitzt. Egal ob Finanzkrise, Energiewende oder nun beim Thema Flüchtlinge, man lädt zum Gipfel. Gipfel klingt gut: Die tun was.
Im Oktober und November versammelt Kanzleramtsminister Altmaier die Chefs der Staats- und Senatskanzleien. Mitte Dezember trifft Merkel die Ministerpräsidenten. Die Länder erhalten 500 Millionen vom Bund, dafür sollen sie abgelehnte Asylbewerber schneller abschieben.

Und was macht das BAMF? Es ist völlig überfordert. Seine Mitarbeiter kommen seit Mitte 2014 mit der Bearbeitung der Asylanträge nicht mehr hinterher. Und der Stau wird durch die steigenden Flüchtlingszahlen immer größer, mit dramatischen Folgen: Selbst Asylanträge, die keine Chance auf Erfolg haben, bleiben Monate liegen – und die Menschen belegen die Betten, die dringend für Kriegsflüchtlinge gebraucht werden. 650 neue Stellen werden dem BAMF schließlich versprochen. Jedem ist klar, das sind viel zu wenige. Noch ist die Krise nicht groß genug, um die Gegenwehr von Finanzminister Schäuble (CDU) zu brechen. Irgendwie wird es schon gehen.

Die Regierung ist mental schon wieder ganz woanders. In Griechenland bedroht der Wahlsieg des Linksbündnisses Syriza die ganze Rettungsstrategie. Und nach den Terroranschlägen von Paris steigt auch in Deutschland die Angst vor Angriffen von Islamisten. Im März starrt die Republik fassungslos auf die Germanwings-Katastrophe. 150 Leben, einfach so ausgelöscht.

Der Chef der EU-Grenzbehörde Frontex , Fabrice Leggeri, warnt im März 2015 vor einer neuen Rekordzahl: "Unsere Quellen berichten uns, dass zwischen 500.000 und eine Million Migranten bereit sind, Libyen zu verlassen." Schon Wochen zuvor, am 3. Februar, geht im Auswärtigen Amt eine dringliche Depesche der deutschen Vertretung in Pristina, Kosovo ein. Unter dem Betreff "Auswanderung von Kosovaren nimmt dramatisch zu" schildern Botschaftsangehörige, dass "derzeit täglich 800–1000 (plus Dunkelziffer) Kosovaren" über Serbien und Ungarn nach Deutschland unterwegs seien. Ende des Jahres könnten es "300.000 Personen, d. h. ein Sechstel der Gesamtbevölkerung" sein.

Dann wird ein Gerücht zitiert, das im Kosovo nicht totzukriegen sei: Angela Merkel habe versprochen, "dass jedem Kosovaren in DEU geholfen wird". Es folgt die Warnung vor Kontrollverlust: "Immer wieder neue, nur zum Teil falsche Informationen über Aufenthaltsmöglichkeiten/Sozialleistungen in der EU, vor allem aber in DEU, haben eine Dynamik erzeugt, die kaum noch kontrolliert werden kann."

Die Diplomaten fordern: "Wir müssen den Nachweis bringen, dass abgelehnte Asylantragsteller umgehend rückgeführt werden. Erst wenn eine größere Anzahl von Kosovaren per Sammel-Charterflieger zurückkehrt, deren Verfahren innerhalb weniger Wochen in DEU abgeschlossen wurden, spricht es sich herum, dass sich illegale Einwanderung nach DEU nicht rechnet." Doch es wird Monate dauern, bis Berlin auf die dramatische Lage reagiert.

Frühjahr 2015: Alle Zahlen sind Makulatur

Langsam macht sich eine Ahnung breit, was auf Deutschland zukommt. Selbst das BAMF reagiert. Im Februar schraubt die Behörde ihre Prognose für das noch junge Jahr hoch. 2015 werden nun offiziell 250.000 neue Asylbewerber erwartet. Darauf sollen sich Länder und Kommunen jetzt vorbereiten.

Die Reaktionen fallen heftig aus. Schleswig-Holstein, Hessen, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen beschweren sich in Nürnberg. Zumal das Innenministerium in Kiel ist sauer. Interne Berechnungen gehen davon aus, dass allein nach Schleswig-Holstein 2015 rund 20.000 Flüchtlinge kommen werden. Hochgerechnet auf den Bund, wären das 590.000 Asylsuchende – mehr als doppelt so viele wie vom BAMF geschätzt.

Die Berechnungen des Bundes haben nach Ansicht der Experten längst nur noch wenig mit der Realität zu tun. Manche Länder leiten die Expertise aus Nürnberg schon gar nicht mehr in ihre Kreise und Städte weiter. Von der BAMF-Wolke aus gesehen, ist eine Flüchtlingswelle noch in weiter Ferne. Aber sie ist längst da.
Und was macht die Bundesregierung? Sie wartet zu. Schließlich erhöhen die Nürnberger ihre Prognose doch noch – aber erst im Mai und nur auf 400.000 Asylerstanträge. Wieder viel zu wenige, wie sich bald zeigt.

Deutsche Touristen erleben in diesen Wochen, was auf ihr Land zukommt. Nur drei Flugstunden entfernt liegt die griechische Insel Kos, ein Urlaubsparadies mit langen Stränden. Von hier sind es nur wenige Kilometer bis zur türkischen Küste. Jede Nacht landen die voll besetzten Boote der Schlepper. Hunderte Flüchtlinge erreichen pro Tag die Insel. Sie campen auf Gehwegen, hoffen auf ein paar Euro von den Touristen. Sie haben es in die EU geschafft – für die meisten nur ein Schritt auf dem Weg nach Deutschland.

Syrien flieht. Immer mehr Syrer geben alle Hoffnung auf, je heimkehren zu können. In Scharen verlassen sie die Flüchtlingslager in den Nachbarländern. Was auch damit zu tun hat, dass die UN ihre Hilfe vor Ort stark kürzt und das Leben dort immer schwerer wird. Allein im Mai erreichen fast 40.000 Flüchtlinge Deutschland.

Juni 2015: Die Krise ist da

Am 10. Juni wird der Innenausschuss des Bundestags über die signifikant gewachsene Zahl der Flüchtlinge informiert, in nicht öffentlicher Sitzung. Als Referent ist Fabrice Leggeri geladen, Direktor der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Er warnt – laut Wortprotokoll mit dem Stempel "Nur zur dienstlichen Verwendung" –, "dass die irregulären Grenzübertritte von der Türkei nach Griechenland im Vergleich zum Vorjahr um 550 Prozent gestiegen sind". Diese Frontex-Zahl wird dem Innenministerium und dem Kanzleramt übermittelt.

Dummerweise ist Innenminister de Maizière stark mit der eigenen Vergangenheit beschäftigt. Ihm wird vorgeworfen, er habe als Verteidigungsminister wider besseres Wissen zu lange am problematischen Sturmgewehr G36 festgehalten. Er bestreitet das. Außerdem muss er als früherer Kanzleramtschef zur NSA-Spionageaffäre Stellung nehmen. Alles Dinge, die ein Innenminister in dieser Lage so gar nicht brauchen kann.

Merkel bittet am 18. Juni die Ministerpräsidenten der Länder zum Gipfel ins Kanzleramt. Um die steigende Flüchtlingszahl geht es und vor allem ums Geld. Sie sagt zu, der Bund werde sich ab 2016 dauerhaft an den Kosten beteiligen, die bisher weitgehend Länder und Kommunen getragen haben. Der Bund verdoppelt seine versprochene Pauschalhilfe für dieses Jahr von 500 Millionen Euro auf eine Milliarde. Einen Krisenstab richtet Merkel nicht ein. Dabei hat das Innenministerium einen parat, mit Räumen und Personal. Der könnte sofort loslegen.

Mitte Juni, die Welt schaut auf Ungarn. Das Land, das als erstes den Eisernen Vorhang des Ostblocks niederriss, will nun einen Zaun bauen. Vier Meter hoch, 175 Kilometer lang, an der Grenze zu Serbien. Bewegungssensoren, Infrarotkameras, Patrouillen. Für den "Tabubruch" wird die Regierung vielfach gescholten. Aber setzt Ungarn denn nicht EU-Recht durch? Das sieht doch vor, dass jeder, der den Schengen-Raum betritt, kontrolliert und registriert wird. Das tut nur keiner mehr. Mit dem Zaun hofft Ungarn, der anarchischen Wanderung Herr zu werden. Denn der Balkan ist längst zu einer riesigen Transitzone in die EU geworden.

Juli 2015: Ein tragischer Held

Thomas de Maizière, zuständig für die innere Sicherheit Deutschlands, muckt auf. Anfang Juli, kurz vor der Sommerpause des Bundestags, äußert er sich intern im kleinen Kreis ausgesprochen kritisch zur Flüchtlingspolitik seiner Regierung. Öffentlich würde er das nie tun. Der CDU-Politiker überlegt, ob man die Botschaft verbreiten sollte, dass es so nicht weitergehe. Doch offiziell trägt er den Kurs der Kanzlerin mit. Vertraute beschreiben seinen Gemütszustand so: "Er tut das pflichtschuldig, aber nicht voller Überzeugung." Im Kanzleramt ist man ihm nicht grün. Er lasse zu viele Vermerke schreiben, heißt es – ein lästiger "Bedenkenträger", der zu oft "Ja, aber" sagt. Die Bundeskanzlerin will von Einwänden gegen ihre Flüchtlingspolitik nichts wissen.

Auf der Bühne Berlin ist de Maizière in der Rolle der tragischen Figur gefangen. Legt er eine schärfere Gangart vor, ist er der herzlose Hardliner. Der will er nicht sein. Bleibt er passiv, ist er ein Weichei. Auch nicht schön. Es fällt ihm schwer, die Rolle zu finden, die zu ihm passt. Lange hat er gedacht, er könne die neue deutsche Multikulturalität moderieren. Das entspräche seiner Herkunft. In der Zeitschrift "Cicero" hat er im April auf die Frage "Was ist deutsch?" an seine hugenottischen Wurzeln erinnert. Er wolle, "dass wir friedlich miteinander leben und es keine Bürger erster und zweiter Klasse gibt".

Derweil fährt Angela Merkel zum Bürgerdialog "Gut leben in Deutschland", zu dem sie lädt, in ein Rostocker Schulzentrum. Am 16. Juli diskutiert sie mit 29 Teenagern in lockerer Atmosphäre. Bis Reem Sawhil, Mädchen aus einer palästinensischen Familie, sagt, sie wisse nicht, "wie meine Zukunft aussieht". Die Kanzlerin spricht minutenlang mit der 14-Jährigen. Sie findet Reem "einen unheimlich sympathischen Menschen". Aber sie sagt ihr auch, in palästinensischen Flüchtlingslagern gebe es "noch Tausende und Tausende", und nicht alle könnten kommen. Als Merkel dem Kind nüchtern klarmacht, dass "manche wieder zurückgehen müssen", bricht die Schülerin in Tränen aus.
Die Kanzlerin geht auf Reem zu, streichelt ihr über den Kopf. Reems Familie stand vor der Abschiebung und hat nur vorläufiges Bleiberecht. Das Mädchen fürchtet, nicht in Deutschland studieren zu dürfen und in den Libanon zurückzumüssen. Die Bilder des Gesprächs werden bundesweit gesendet. Sie prägen sich ein. Sie prägen das Bild der Kanzlerin. Da ist es, was sie fürchtet – die falschen Bilder. Im Internet bricht ein Shitstorm gegen Merkel los. Die Grünen twittern: "Herzlose Politik lässt sich nicht wegstreicheln."

Spätsommer 2015: Die Sphinx von Berlin

Wenn Historiker einst auf diesen deutschen Sommer der Entgrenzung zurückblicken werden, dürften sie die letzten Augusttage als jenen Moment identifizieren, in dem die Lage endgültig kippte. Bis hierhin konnte man sagen: Warnungen in den Wind geschlagen, Berlin wollte gar nicht so genau wissen, was die Sicherheitsbehörden wussten und was vor Ort längst jeder sah. Falsch reagiert also, schlecht regiert, blöd gelaufen. Doch jetzt geschieht etwas Neues.
Jetzt sagt die Kanzlerin: Nein, nicht blöd gelaufen – genau so, wie es läuft, läuft es richtig. In ihren heute historischen Worten: "Unser Asylrecht kennt keine Obergrenze ." Und: "Wir schaffen das!" Und: "Wir können die Grenzen nicht schließen." Mit anderen Worten: Es ist, wie es ist, und wie es ist, ist es gut. Und sie tut, was sie denkt. Merkel entscheidet am 4. September gegen alle Bedenken, Tausende aus Ungarn via Österreich einreisen zu lassen – und nicht, um mal kurz Dampf abzulassen, sondern auf Dauer.

Die Deutschen finden, aus ihren Sommerferien heimkehrend, ein verändertes Land vor. Eines, das dabei ist, große Teile der fliehenden Bevölkerungen des islamischen Krisenbogens bei sich aufzunehmen. Syrien. Irak. Afghanistan. Pakistan. Nordafrika. Immer noch ist die Hilfsbereitschaft überwältigend. Die Welt staunt über die guten Deutschen. Aber unsere europäischen Nachbarn sehen uns mit gemischten Gefühlen. Das Wort vom "deutschen Hippie-Staat" fällt.
Zugleich beten unsere Nachbarn, die deutsche Weltfremdheit möge noch eine Weile anhalten. Gern helfen sie, die Flüchtlinge dorthin weiterzuwinken, wohin sie so sehnlich wollen. Cameron stopft sein Nadelöhr zu, den Tunnel unterm Ärmelkanal. Frankreich lässt deutsche Delegationen, die eine Lastenteilung verhandeln wollen, höflich abblitzen. Und die Österreicher stellen Schilder auf: Da lang geht's nach Germany.


Was ist es, das Angela Merkel treibt – der gute alte deutsche Idealismus? Oder nur der Starrsinn einer Kanzlerin, die nichts so sehr fürchtet wie hässliche Bilder? Bilder von Flüchtlingen, von verzweifelt andrängenden Frauen und Kindern in Passau oder an anderen Grenzübergängen, zurückgetrieben von Schlagstöcken und Wasserwerfern deutscher Polizisten. Schlechte Bilder zu vermeiden wird oberstes Ziel deutscher Staatskunst.

Darf man in so emotionalen Zeiten an geltendes Recht erinnern? Empörte Spitzenbeamte aus den Sicherheitsbehörden tun es. Im Spätsommer 2015 zirkuliert im Innenministerium ein Papier, in dem auf die geltende Rechtslage in vier Punkten gepocht wird. Gleich im ersten Satz wird auf Paragraf 18, Abs. 2, Nr. 1 des geltenden Asylverfahrensgesetzes hingewiesen: Einem Asylsuchenden, der aus einem sicheren Drittstaat einreist, ist die Einreise zu verweigern. Und weiter: Die deutschen Grenzbehörden seien verpflichtet, unberechtigte Personen zurückzuweisen. Entgegenstehende Weisungen seien rechtswidrig und strafbar.
Macht sich also die Kanzlerin, indem sie das Recht außer Kraft setzt, strafbar? Kann eine Bundeskanzlerin, die den Eid auf das Grundgesetz geschworen hat, einfach sagen, nö, das machen wir jetzt mal anders? Wir lassen das Asylrecht links liegen und alle, die reinwollen, rein. Eine Lage, in der sich Spitzenbeamte solche Fragen stellen, war in der Bundesrepublik noch nie da.

Selbst enge Vertraute rätseln, was in Merkel vorgeht. Warum sie, während um uns her Staaten kollabieren, Deutschland zum offenen Land erklärt. Die konventionelle Antwort lautet: Merkel verlässt sich, wie jeder erfolgreiche Politiker, auf die bewährten Rezepte, mit denen sie oft Erfolg hatte. Lange nichts sagen, warten, sollen doch andere streiten, dann jäh handeln. Partei und Volk werden schon folgen. So lief es beim Atomausstieg, in der Griechenland-Krise. Und das machen wir jetzt in der Flüchtlingskrise auch so.

Doch etwas ist neu. In dem wenigen, was sie sagt, blitzt eine Tiefenüberzeugtheit auf, die man der Kanzlerin nicht zugetraut hatte. War sie nicht die, die immer auf Sicht fuhr? Immer schön vorsichtig, die ideale Fahrerin, neben der man ruhig ein wenig dösen konnte. Jetzt erwacht man auf seinem Beifahrersitz, und da sitzt plötzlich eine ganz andere am Steuer als eben noch. Sie fährt auch anders – viel riskanter. An die Straßenverkehrsordnung hält sie sich nicht. Die gelte jetzt nicht mehr, sagt sie, und gibt Gas.

August 2015: "Pack" gegen "Volksverräter"

Im Land gerät die Lage immer häufiger außer Kontrolle. Rechte zünden Asylheime an. Linke gehen auf Rechte los. In überfüllten Unterkünften verlieren Bewohner die Nerven. Bei einer Massenschlägerei in Suhl geraten 80 Flüchtlinge aus Eritrea, Albanien und Somalia aneinander. Steine fliegen, Eisenstangen werden geschwungen, Polizeiautos angegriffen. Bilanz: 17 Verletzte, davon sechs Polizisten. Zwei Wochen später wird dort ein Afghane fast gelyncht, weil er einen Koran ins Klo warf. Die Polizei braucht Stunden, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen.


Während der Bundesinnenminister Sommerurlaub macht, rebellieren seine Länderkollegen über Parteigrenzen hinweg. In täglichen Telefonkonferenzen mit de Maizières Staatssekretärin Emily Haber fordern sie vom Bund endlich eine realistische Einschätzung der Lage. "Wir brauchen jeden Tag Vorbereitung", klagen die Minister. Sie verlangen Klarheit darüber, was im Herbst und Winter auf sie zukommt. Wie viele Betten müssen sie besorgen? Das geht nicht von heute auf morgen. Haber vertröstet die Innenminister. Man werde bald eine neue Schätzung vorlegen, sagt sie laut Teilnehmern.

Die Regierung könnte schnell handeln. Doch das passiert nicht. Das belegt etwa ein interner Schriftwechsel, der dieser Zeitung vorliegt. Danach erhält das Innenministerium schon Anfang August eine deutlich höhere Prognose vom BAMF. Die Situation in den Flüchtlingslagern rund um Syrien verschlechtere sich, heißt es in dem siebenseitigen Schreiben für ein Treffen von de Maizière und Merkel. Auch vom Balkan kämen noch immer viele. Für die Länder zählt jeder Tag. Doch statt die Prognose rasch weiterzuleiten, wartet die Regierung zwei Wochen. Auf Anfrage erklärt das Innenministerium, man habe zunächst sorgfältig prüfen müssen, ob man der veränderten Berechnungsgrundlage des BAMF folgt.

Erst am 19. August tritt de Maizière in den Presseraum des Innenministeriums, in der Hand eine dunkle Mappe. Darin steckt eine Tabelle der Bundespolizeidirektion München. Sie zeigt die Zahl der illegalen Einreisen seit 2013. Die letzten Balken der Grafik sind rot: Inzwischen kommen täglich fast 7000 Flüchtlinge. Der Innenminister erhöht die Prognose für 2015 auf 800.000. Nun ist es offiziell: Etwas Vergleichbares hat die Bundesrepublik in ihrer Geschichte noch nicht erlebt. Es wird das Land verändern.
Im Innenministerium wird eine Art Feuerwehr installiert, ein "Koordinierungsstab" zur Asyl- und Flüchtlingspolitik, der aber nicht Krisenstab genannt wird. Das Wort "Krise" wird vermieden. Auch wenn die Kanzlerin ein paar Tage später selbst spürt, wie die Lage eskaliert.


Als sie am 26. August im sächsischen Heidenau aus dem Dienstwagen steigt, schallen ihr Schmähungen entgegen. Aus einer mehrhundertköpfigen Menge wird sie als "Volksverräterin" beschimpft. Es ist das erste Mal, dass die Kanzlerin eine Flüchtlingsunterkunft besucht. Tage zuvor flogen hier Böller, Flaschen, Steine. Hunderte wollten verhindern, dass Asylbewerber in einen ehemaligen Baumarkt einziehen.

Heidenau wird zum Wendepunkt für Merkel. Sie macht die Flüchtlingsfrage zur Chefsache. Tage später sitzt sie in Berlin vor den Hauptstadtjournalisten. Es geht nur noch um Flüchtlinge. Merkel spricht von einer "großen nationalen Herausforderung", und das für eine "längere Zeit". Und sie legt sich fest: "Wir schaffen das."

Syrer, die es nach Deutschland geschafft haben, senden per Handy Fluchttipps in die Heimat. Wer es klug anstellt, braucht kaum mehr zwei Wochen von Syrien nach Deutschland. Ein neuer Schub setzt ein, als Berlin Ende August das "Dublin-Verfahren für syrische Staatsangehörige" aussetzt. Syrer werden nicht mehr nach Ungarn, Österreich oder in andere EU-Staaten zurückgeschickt, auch wenn sie dort erstregistriert wurden. Die Nachricht verbreitet sich in Windeseile in Syrien und in den Flüchtlingslagern der Region.

"Deutschland hat seine Tore aufgemacht", kommentiert das "Wall Street Journal". Die Führung der Bundespolizei möchte die Grenzen nun lieber schließen. Die Potsdamer Polizeispitze hat den schriftlichen Befehl vorbereitet, Kontrollen an den deutschen Grenzen durchzuführen und Asylbewerber zurückzuweisen. In einer Abteilungsleitersitzung des Innenministeriums wird darüber Ende August diskutiert. Der Chef, Thomas de Maizière, hört zu, bleibt aber indifferent. Er fragt die Kanzlerin, ob er den Befehl umsetzen solle. Doch Merkel pfeift die Bundespolizei zurück. Darüber wundert sich nicht nur deren Führung. Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel ist erstaunt, dass Merkel ihre großzügige Geste gegenüber den syrischen Flüchtlingen nun nicht mit einer harten Maßnahme kompensiert.

September 2015: Angela Merkels Nacht

Gut möglich, dass der 4. September rückblickend als der wichtigste Tag in Angela Merkels Kanzlerschaft erkannt wird. Sie ist auf dem Weg zu einer Kundgebung in Essen, als sie die Bilder aus Ungarn erreichen. Von Budapest machen sich Hunderte zu Fuß auf den Weg nach Österreich. In Kolonnen wandern sie auf der Autobahn. Merkel wird später sagen, sie sei nicht überrascht gewesen: Schon eine ganze Woche hatten die Flüchtlinge im Keleti-Bahnhof ausgeharrt.
Zuerst lässt Ministerpräsident Viktor Orbán sie gen Westen ziehen, dann stoppt er alle Züge. Eine Falle für die Flüchtlinge, glaubt man in Merkels Umgebung. Die Entscheidung, niemanden auf den Straßen Europas sterben zu lassen, will sie schon Tage zuvor getroffen haben.


Mit Orbán gibt es an dem Tag kein direktes Gespräch, nun wird ein anderer europäischer Staatsmann Merkels wichtigster Partner: Werner Faymann, sozialdemokratischer Bundeskanzler von Österreich. Er schlägt vor, dass sich Wien und Berlin die immer noch über Ungarn anmarschierenden Flüchtlinge teilen. Merkel spricht auch mit SPD-Chef Sigmar Gabriel und mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier.

Während sie nach Berlin fliegt, versuchen ihre Leute vergeblich den CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer in seinem Ferienhäuschen im Altmühltal zu erreichen. Nach einer anstrengenden Woche geht er zeitig ins Bett. Merkel spricht auf seine Mailbox. Doch Seehofer ist nicht der Typ, der mitten in der Nacht aufschreckt und sein Handy checkt. Die Kanzlerin entscheidet. Zwischen 23 Uhr und Mitternacht sagt sie zu Faymann: Wir machen es. Der Österreicher möchte Busse schicken, um die Flüchtlinge von Ungarn abzuholen. Plötzlich kooperiert auch Orbán. Ungarische Busse rollen mit syrischen Passagieren an die österreichische Grenze.

Hatte Merkel eine andere Wahl? Kaum jemand kritisiert ihre Entscheidung in dieser Nacht. Aber es gibt viele, die nicht verstehen, warum die Kanzlerin eines nicht unterstreicht: dass es eine Grenze der Belastung gibt. Stattdessen sagt sie Sätze wie diesen: "Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze; das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen."

Das ist korrekt. Aber Deutschland grenzt nicht an die Hölle, und nicht alle kommen aus ihr. In München stranden an einem Wochenende über 20.000 Menschen. Die Bayern empfangen sie mit lautem Applaus am Bahnhof. Es ist so anders als in Heidenau. Auch das ist Deutschland. Merkel habe die moralische Führung in Europa inne, schreibt die "New York Times" . Aber eine niederländische Zeitung fragt: "Wie lange halten die Deutschen das durch?" Merkel jedenfalls hält durch. Doch die Krise fordert ein erstes politisches Opfer: BAMF-Chef Manfred Schmidt.


Alle zwei Minuten donnert ein Flugzeug im Anflug über das Flüchtlingsheim in Berlin-Spandau hinweg, das die Kanzlerin gerade besucht. Ihr Pressestatement verzögert sich. Ein Mitarbeiter des Kanzleramts erscheint: Merkel habe 50 Flüchtlinge im Schlepptau. Alle wollten Selfies mit ihr. Das geht so weiter, als die Kanzlerin schon vor den Kameras steht. Es dauert, bis Merkel sie stoppt: "Nein, jetzt nicht. Ich muss jetzt etwas sagen." Da sind die Selfies längst auf dem Weg durchs Internet, durch die Flüchtlingslager dieser Welt. Es funktioniert wie eine Facebook-Party, die völlig aus den Fugen gerät, weil statt 50 Gästen plötzlich 5000 kommen.

Daheim regt sich Unmut über die Selfie-Kanzlerin. Viele Landesinnenminister fühlen sich von Merkels großzügiger Einreiseerlaubnis "überrumpelt". Mehrere warnen in Telefonkonferenzen vor Chaos – und vor Sicherheitsrisiken. "Die Länder sind völlig überrascht worden von der Einreiseerlaubnis der Kanzlerin. Wir hätten Zeit für Vorbereitungen gebraucht. Und wir hätten vorher davon wissen müssen", kritisiert der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Roger Lewentz (SPD). Niemand hat mehr einen Überblick, wer ins Land kommt. Die Länder seien "in großer Not, weil sie bei der Unterbringung am Limit sind. Wir können die Geschwindigkeit des Zustroms nicht mehr lange allein bewältigen."
Im Berliner Innenministerium ringen die Experten um eine Haltung. Die einen wollen eine Verschnaufpause: Flüchtlinge sollen an der Grenze zu Österreich abgewiesen werden. Das kommt für die Bundesregierung aber nicht infrage. Die Grenzen werden nur ein bisschen dichtgemacht. Am 13. September ordnet de Maizière die zeitweise Wiedereinführung von Kontrollen an. Schwerpunkt ist die Grenze zu Österreich. Jeder Flüchtling kann rein, er soll aber registriert werden – "auch aus Sicherheitsgründen".


Merkel verliert langsam die Geduld mit ihren Kritikern: Während einer Pressekonferenz mit Österreichs Regierungschef Werner Faymann platzt es aus ihr heraus: "Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Die Kanzlerin fügt – mit Blick auf den nicht namentlich erwähnten CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer – hinzu: "Ich sage wieder und wieder: Wir können das schaffen, und wir schaffen das."
Für Entspannung sorgen diese Worte nicht. Beim Gipfel am 16. September im Kanzleramt dient der Innenminister den Ministerpräsidenten als Ventil für ihren Frust. Die Länder verstehen nicht, warum das BAMF noch immer über fünf Monate braucht, um Asylanträge zu bearbeiten. Es hilft de Maizière auch nicht, dass er jetzt Aufgaben der Länder übernehmen will und 40.000 Erstaufnahmeplätze schaffen möchte. Als der Innenminister eine Liste mit möglichen Liegenschaften herumreicht, platzt Ministerpräsidentin Hannelore Kraft aus NRW der Kragen. Manche der Unterkünfte seien doch längst belegt.
Ende September beschließt das Kabinett ein Asylpaket , das noch vor Monaten undenkbar gewesen wäre. Weitere Westbalkanstaaten sollen sichere Herkunftsländer werden. Man setzt weniger auf Geld- als auf Sachleistungen. Abschiebungen werden nicht mehr angekündigt.

Flüchtlinge schwärmen nun seltener von "Mama Merkel", wenn sie mit der Realität im Heim konfrontiert sind. Lange Wartezeiten beim BAMF, Betten auf Fluren, strengere Auflagen. "This place is disgusting." Sätze wie diesen hört man jetzt öfter in Asylheimen.

Oktober 2015: Hauen und Stechen

Merkel spürt den Druck. Die Umfragewerte der Union fallen auf den niedrigsten Stand seit der Bundestagswahl. Die Hälfte der Deutschen hält den Umgang der Regierung mit der Flüchtlingskrise für falsch.

Anfang Oktober beschließt das Kabinett, die Flüchtlingspolitik künftig aus dem Kanzleramt zu steuern – nicht mehr allein vom Innenministerium. Merkel zieht das Thema an sich. Kanzleramtsminister Peter Altmaier übernimmt die "politische Gesamtkoordinierung". Für die Kanzlerin ein Risiko: Wenn jetzt noch mehr schiefgeht, muss nicht der Innenminister, sondern ihr engster Mitarbeiter dafür geradestehen.

13. Oktober: Merkel und Altmaier empfangen um 9.30 Uhr im großen Kabinettssaal des Kanzleramts die "AG Innen", das sind 17 Innenexperten von CDU und CSU. Die AG hat um den Termin gebeten. Altmaier verspricht, der Zustrom der Flüchtlinge werde von allein abebben: "Ihr müsst euch das so vorstellen wie eine Pipeline, die leerläuft." Anfang 2016 werde die Leitung nur noch tröpfeln. Mehrere Mitglieder der AG widersprechen: "Das tröpfelt überhaupt nicht." Das Problem werde eher größer.


Dann geht es um die Frage, ob Deutschland Flüchtlinge an den Binnengrenzen zurückweisen dürfe. Das Kanzleramts schlingert: "Ja, weil die Flüchtlinge aus sicheren Staaten wie Österreich kommen", heißt es erst. Dann aber heißt es, das internationale Recht, die Dublin-Regelungen und völkerrechtlichen Verträge sprächen dagegen. Auf die Frage, ob das Kanzleramt überhaupt zurückweisen wolle, antwortet Merkel klar: "Nein." Das würde dazu führen, dass Österreich die Grenzen schließen werde. "Dann gäbe es Bilder, die wir uns alle nicht wünschen können."

Die Bilder, da sind sie wieder. Sie beherrschen das Denken der Kanzlerin. Sie bestimmen im Moment die Richtlinien deutscher Asylpolitik. Viele der AG sind unzufrieden mit dem Treffen. Einer sagt: "Merkel versucht, die Welt zu retten, und jetzt kommen wir mit Kleinkram wie fehlenden Betten für Flüchtlinge." Die Innenexperten beschließen, die Probleme vor der gesamten Fraktion anzusprechen.

Die Kanzlerin muss es schmerzen, wenn einer wie Clemens Binninger das Wort gegen ihre Politik erhebt. Binninger, früher selbst Polizist, ist kein Lautsprecher. Wenn er aufbegehrt, wissen alle: Hier gibt es Probleme. Binninger erklärt der Kanzlerin vor allen Abgeordneten von CDU und CSU, dass Grenzkontrollen ohne die Möglichkeit, Flüchtlinge auch zurückzuweisen, "keinen Sinn machen". Er sagt Merkel ins Gesicht: "Da haben wir unterschiedliche Auffassungen."
Teilnehmer berichten, de Maizière habe eingeworfen, die Grenzen ließen sich nicht schützen. Fraktionschef Volker Kauder soll das leise mit den Worten kommentiert haben: "Ja, genauso wie bei den Libanesen-Clans, wo wir auch nichts mehr machen können." Es ist ein Eingeständnis der Hilflosigkeit – das Eingeständnis, keine Regierung mehr zu sein. So sehen es Merkels Kritiker in der Fraktion.

In der Fraktionssitzung verlassen immer mehr Abgeordnete demonstrativ ihre Plätze – fast die gesamte erste Reihe ist weg. Nur der frühere Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), alles andere als ein Merkel-Anhänger, sitzt noch da. Die Kanzlerin wendet sich ihm in überraschend freundlichem Ton zu: "Wenigstens einer ist ja noch geblieben." Friedrich sehnt sich nach einer Autorität in diesen Tagen. Einen wie Wolfgang Schäuble, den könnte er sich als Nachfolger von Merkel gut vorstellen.

Die Fronten sind starr – hier das Kanzleramt, dort die Experten. Sie machen sich große Sorgen. Unter hochrangigen Sicherheitsbeamten des Bundes kursiert eine Analyse, die deutlich warnt: Die deutschen Sicherheitsbehörden "sind und werden nicht in der Lage sein, diese importierten Sicherheitsprobleme und die hierdurch entstehenden Reaktionen aufseiten der deutschen Bevölkerung zu lösen".

Die Regierung beginnt, sich auf eine weitere Eskalation der Lage vorzubereiten. Die Sicherheitsbehörden warnen davor, dass die Flüchtlinge derzeit immer schneller über den Balkan nach Mitteleuropa kommen. Die "Durchlaufzeit" habe sich "weiter verkürzt".


Merkel umgarnt nun die Türkei, viele Flüchtlinge im Land zu halten. Mitten im Wahlkampf dort besucht sie den Präsidenten Erdogan – und befördert ihn zu Europas Schleusenwärter. Kritiker sehen in dem Besuch eine Wahlkampfhilfe für Erdogans AKP, die wenig später die absolute Mehrheit erobert. Merkel will sich selbst nicht die Finger schmutzig machen und setzt auf eine europäische Lösung. Aber Türken und Griechen sind sich nicht einmal über gemeinsame Seegrenzen einig. Dabei wäre mit ein paar Marineschiffen das gute Dutzend griechischer Inseln gegen Schleuserboote durchaus abzuriegeln. Man könnte die Flüchtlinge zur türkischen Küste zurückbringen – aber niemand tut es.
In einem vertraulichen Lagebild "Illegale Migration" spielt das Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrums illegale Migration (Gasim) das Szenario durch, dass die Balkanstaaten ihre Grenzen schließen. Ein mögliches "Stürmen der Grenzen" wird darin beschrieben. Eine "Sackgasse" auf der Balkanroute ohne europäische Unterstützung könnte "Panik und Chaos bei Migranten und Behörden" auslösen. Die Sicherheitsbehörden warnen vor "ghost ships", die von der Türkei direkt Kurs auf Italien nehmen könnten.

November 2015: Wir tun was

Seit über einem Jahr sucht die Regierung nun nach Antworten. Noch immer fehlt ihr ein wenigstens grober Überblick. Niemand weiß, wie viele Flüchtlinge sich überhaupt in Deutschland aufhalten. Oder wie viele Asylheime es mittlerweile gibt. Es sind wohl Tausende. Und vor allem weiß keiner, wie viele Flüchtlinge noch kommen werden.

Wer solche Fragen dem Büro des Flüchtlingskoordinators stellt, erhält einen Rückruf aus dem Bundesinnenministerium. Altmaier koordiniert. Aber was genau tut er?

An diesem Mittwoch verlässt der Kanzleramtschef endlich das Raumschiff Berlin. Die Flüchtlinge im Landkreis Passau begrüßen Altmaier mit Applaus. "Where do you come from?", fragt er die Menschen. "How long was the journey?" Den Bewohnern vor Ort verspricht er, die Lage bald wieder erträglicher zu machen.
Am vergangenen Donnerstag hat sich die Koalition nach wochenlangen Querelen nun auf die Einrichtung von Registrierzentren geeinigt. War das der erste Schritt, die Krise endlich in den Griff zu kriegen? War es die politische Entscheidung, auf die die Sicherheitsbehörden gewartet haben, die Landräte, Bürgermeister, Helfer – und die Wähler? Wird diese Ankündigung irgendwen abhalten, die Reise ins gelobte Deutschland anzutreten?

Dieser deutsche Herbst ist noch lange nicht vorüber. Eben kommt aus Brüssel die neueste Prognose für 2016: Drei Millionen erwartet Europa im nächsten Jahr. 

Quelle: http://www.welt.de/politik/deutschland/article148588383/Herbst-der-Kanzlerin-Geschichte-eines-Staatsversagens.html

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