Samstag, 12. Dezember 2015

"Wir schaffen das" Wir brauchen Demut statt Machbarkeitswahn

Wir haben Demut verlernt. Das ist das Ergebnis einer brachialen Säkularisierung, die den Glauben abgeschafft und einen neuen Aberglauben etabliert hat: dass alles machbar und nichts unmöglich ist.

Vor 112 Jahren, am 17. Dezember 1903, starteten die Brüder Orville und Wilbur Wright (Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Br%C3%BCder_Wright) mit einem von ihnen gebauten Doppeldecker namens "The Whopper Flying Machine" zu einem Abenteuer, von dem Generationen geträumt hatten, seit Leonardo da Vinci 400 Jahre zuvor einen Flugapparat gezeichnet hatte.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, so Orville Wright, der Pilot, habe sich "eine Maschine mit einem Menschen ... durch ihre eigene Kraft in freiem Flug in die Luft erhoben", sei dann "in waagerechter Bahn vorwärts geflogen" und war gelandet, "ohne zum Wrack zu werden".

Der erste "Flug" mit dem 340 Kilo schweren Gerät, wovon 81 Kilo auf den Motor entfielen, dauerte 12 Sekunden und ging über 37 Meter, was einer Geschwindigkeit von beinah 11 Kilometern pro Stunde entsprach. Schon der zweite Flug, den Bruder Wilbur unternahm, ging über eine wesentlich längere Distanz: 260 Meter in 59 Sekunden.

Landeplätze der Apollo-Missionen
Die Brüder Wright wussten, dass sie ein neues Kapitel im großen Buch der Erfindungen aufgeschlagen hatten. Was sie nicht einmal ahnen konnten, war, dass am 21. Juli 1969 ein Fluggerät namens "Apollo" (Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Mondlandung) mithilfe einer Raumfähre Menschen auf dem Mond absetzen würde. Zwischen den "Flügen" der Brüder Wright und der ersten Mondlandung waren nur 66 Jahre vergangen!

200.000 Freiwillige für die Mars-Mission

Inzwischen sind mehrere Sonden zum Mars befördert worden, um von dort Daten zur Erde zu funken, die eine bemannte Mission vorbereiten sollen. Wenn alles gut geht, soll im Jahre 2025, also übermorgen, eine Kolonie auf dem Mars bezugsfertig sein. Obwohl es für die Besatzung eine Reise ohne Wiederkehr werden soll, haben sich mehr als 200.000 Freiwillige gemeldet, die ihr Leben auf dem Roten Planeten vollenden möchten.

Man mag das abenteuerlich, unüberlegt oder verrückt finden, sollte dabei aber nicht vergessen, dass vieles, was heute zum Alltag gehört, wie die elektronische Post oder das Smartphone, noch zur Zeit des Mauerfalls nur in Science-Fiction-Romanen zu finden war. Die Visionen von gestern sind die Sonderangebote von heute. Alles ist machbar, und "nichts ist unmöglich". Der Werbespruch von Toyota ist zum Leitmotiv des Fortschritts geworden.

Während in den Feuilletons noch über die praktischen Vorzüge und ethischen Probleme selbstfahrender Autos diskutiert wird, ist die Automobilindustrie schon einen Schritt weiter. In einer nicht allzu fernen Zukunft sollen Autos auf den Markt kommen, die der "Fahrer" mit seinen Gedanken steuert, möglicherweise, ohne vom Ikea-Sofa im heimischen Wohnzimmer aufstehen zu müssen.

Die Visionäre der alten Schule wurden verlacht

Ob dann Autos überhaupt noch gebraucht werden oder man alle Reisen telepathisch und virtuell erledigen kann, ist eine Frage der Software, die erst entwickelt werden muss. Während Helmut Schmidt noch meinte, wer Visionen habe, solle einen Arzt aufsuchen, brauchen Visionäre heute vor allem begabte IT-Spezialisten, die jeder Aufgabe gewachsen sind.

Man fragt sich, wie die Visionäre von gestern und vorgestern ohne computergesteuerte Simulationen, ohne Analysten, Berater und Trendforscher ausgekommen sind. Kolumbus hatte eine Idee und einen Kompass; Theodor Herzl träumte von einem Judenstaat in der Wüste, Martin Luther King vom Ende der Rassentrennung, Axel Springer wollte sich mit der deutschen Teilung nicht abfinden.

Die Visionäre der alten Schule waren keine Pragmatiker, ganz im Gegenteil, sie trotzten dem Zeitgeist und wurden dafür ausgelacht und verspottet. Wenn sie je anerkannt wurden, dann geschah das fast immer post mortem.

"Dekarbonisierung der Weltwirtschaft"?

Die Visionäre von heute sind aus einem anderen Holz geschnitzt. Es sind Vollzugsbeamte, die dem Zeitgeist zur Geltung verhelfen. Angela Merkel zum Beispiel hat durchaus eine "langfristige Vision", genau genommen sind es sogar zwei.

Sie möchte die von ihr initiierte Energiewende bis 2050 umgesetzt wissen und die "Dekarbonisierung der Weltwirtschaft" bis zum Ende dieses Jahrhunderts erreichen, also fossile Energieträger (Kohle, Öl, Gas) durch kohlendioxidfreie Energiequellen (Sonne, Wind, Wasser) weltweit ersetzen.

Eine kurzfristige Vision hat sie inzwischen fallen lassen: Bis 2020, so der Plan, sollten eine Million Elektroautos auf deutschen Straßen unterwegs sein. Davon ist keine Rede mehr, nicht etwa, weil auch der Strom für die E-Autos irgendwo und irgendwie erzeugt werden muss, sondern weil es derzeit unmöglich ist, Massen von Autofahrern zum Kauf von E-Autos zu zwingen.

Aber an ihrer langfristigen Vision hält die Kanzlerin unbeirrt fest: Energiewende bis 2050 und Dekarbonisierung der Weltwirtschaft bis 2100. Obwohl sie natürlich weiß, dass, egal, wie die Dinge derzeit laufen, sie im Jahre 2050 nicht mehr im Amt sein wird, um Lob oder Prügel für ihre Beharrlichkeit zu kassieren.

Selbstüberschätzung und Selbstüberhebung

Sind das Visionen oder Halluzinationen? Egal, es sind Symptome der Selbstüberschätzung und der Selbstüberhebung, die nicht nur das Verhalten der Kanzlerin bestimmen. Auch die Deutsche Bank und Volkswagen sind in Krisen geschlittert, weil die führenden Manager Visionen hatten, an denen sie sich berauschten, bis die Party von der Sittenpolizei abgebrochen wurde.
Der naheliegende Gedanke, irgendjemand könnte ihnen auf die Schliche kommen, war ihnen nicht einmal fremd, er war nicht da. Sie spielten Gott in Nadelstreifen, und wer würde es schon wagen, solchen Göttern in den Arm zu fallen?
Das haben wir nun davon, dass wir den Menschen zum Maß aller Dinge erhoben und alles Metaphysische unter den "Generalverdacht" des Rückständigen gestellt haben. Die Abwesenheit von Demut ist das Ergebnis einer brachialen Säkularisierung, die den Glauben abgeschafft und dafür dem Aberglauben den Weg geebnet hat – dass alles machbar und nichts unmöglich ist.

Das Gesetz der Casting-Shows

Die Zehn Gebote sind auf zwei eingedampft worden: "Du kannst es. Du schaffst es." Egal, ob es um die Energiewende oder die Teilnahme an einer Casting-Show geht. Die Welt als Wille und Vorstellung ist kein philosophisches Konzept, sondern gelebter Alltag.

Man ist das, was man sein möchte. Es reicht, sich nur eine Folge von "Deutschland sucht den Superstar" anzusehen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie es auch bei einer Regierungssitzung im Kanzleramt oder im VW-Vorstand zugeht.

Robuste Fehleinschätzung der eigenen Möglichkeiten, verbunden mit Durchhaltevermögen sind die einzigen Eigenschaften, auf die es ankommt. Wer sagt denn, dass es so etwas wie Wirklichkeit gibt? Wirklichkeit ist nur ein soziales Konstrukt, ebenso wie geschlechtliche Zugehörigkeit.

Es gilt das Prinzip der Chancengerechtigkeit. Und wer dennoch versagt, der hat das Recht, sich bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu beschweren.

Quelle: http://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article149224352/Wir-brauchen-Demut-statt-Machbarkeitswahn.html

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen