Sonntag, 29. Mai 2016

„Merkel hat gesagt, dass wir kommen dürfen“

Sollten Sie einer Zeitung wie der TAZ unterstellen, sie würde nur schön gefärbte Berichte zur Zuwanderung bringen, dann können wir Ihnen hier eine Reportage empfehlen, die nicht zu diesem Vorurteil passt. Kersten Augustin beschreibt in der Zeitung die Begegnung mit einem Asylbewerber, der enttäuscht nach Erbil in Irakisch-Kurdistan zurückgekehrt ist. Er ist Verkäufer auf dem Basar und leidet keine existentielle Not: „Im letzten Sommer", sagt Mawlud, während er Hemden zusammenlegt, „dachte ich jeden Tag, ich muss sterben." Nicht aus Angst vor dem IS, der an Erbil heranrückte. Nicht weil er politisch verfolgt wurde. „Ich habe mich hier gelangweilt", sagt er leise. Jeder Tag fühlte sich wie der vergangene an und der davor: Hemden falten, auf Kundschaft warten. Am freien Tag ins Café gehen und Wasserpfeife rauchen. Warten, bis etwas passiert, aber eigentlich wissen: Es wird nichts passieren.

Das geht vielen jungen Menschen in vielen Teilen der Welt so. Um sich tatsächlich auf den Weg zu machen, bedurfte es aber noch eines Impulses:

Im vergangenen Sommer sah Mawlud die Bilder im Fernsehen, von Flüchtlingen, die nach Europa gingen. Sie sahen glücklich aus, wie sie in Lesbos aus den Booten stiegen oder in Serbien aus den Zugfenstern winkten.

Mawlud erkannte sicher auch, dass es sich bei vielen dieser Zuwanderer nicht wirklich um Flüchtlinge im klassischen Sinne handelte. Aber Deutschland schien jeden, der ins Land wollte, als Flüchtling einzuladen, aufzunehmen und zu versorgen. Ein Staat, der reich ist, sich um alles kümmert und jedem eine Chance gibt, sich neu zu erfinden – das klingt äußerst verlockend. Und der rauhen Wirklichkeit halten solche Träume natürlich nicht stand, das erzählt Mawlud der TAZ selbstverständlich auch:

Das Leben in Deutschland, Mawlud hatte es sich anders vorgestellt. Leichter. Die Schlange vor dem Lageso hatten sie im Fernsehen nicht gezeigt. Die Einsamkeit, die Enge auf den Zimmern auch nicht. Zu Hause in Erbil hatte Mawlud nicht mehr warten wollen, dass etwas passiert. Jetzt musste er wieder warten, wochenlang. Die Langeweile, vor der er geflohen war, hatte ihn eingeholt. […] Auf seinem Smartphone wischt er durch die Fotos aus Deutschland. Ob er stolz ist auf die digitalen Souvenirs oder beschämt, sein Blick will es nicht verraten. Ein Bild zeigt ihn vor dem Brandenburger Tor, ein anderes vor dem Berliner Dom. Dazwischen der Hintern eines Mädchens, das er heimlich fotografiert hat. Mawlud wischt schnell weiter.

Der Aufbruch nach Deutschland war offensichtlich eine Fehlentscheidung. Aber wer möchte schon gern akzeptieren, dass er ganz eigenverantwortlich einen grundlegenden Fehler gemacht hat?

Mawlud gibt der deutschen Kanzlerin die Schuld für die Situation in Berlin: „Merkel hat gesagt, dass wir kommen dürfen", sagt Mawlud, und muss sich anstrengen, seine Wut zurückzuhalten. „In Deutschland habe ich gemerkt: Das stimmt nicht. Merkel sagt etwas, aber sie macht etwas anderes."

Das ist schon böse von der Kanzlerin: Erst Millionen Gäste einladen und sich dann nicht richtig um sie kümmern. Aber wenigstens hat ihm das kalte Deutschland die Heimkehr offenbar ein klein wenig versüßt: Die Sachbearbeiterin machte ihm ein Angebot: Sie bot ihm an, das Flugticket nach Hause zu bezahlen, dazu 950 Euro in bar, auf die Hand. Mawlud überlegte nicht lange. Wenige Tage später saß er im Flugzeug von Düsseldorf nach Erbil, in seinen Händen ein Umschlag mit Scheinen.

Ein Migranten-Schicksal, an dem der Betreffende selbst natürlich nicht unschuldig ist, doch dass die deutsche Bundeskanzlerin mitverantwortlich ist, damit hat Mawlud nicht ganz unrecht.

Quelle für alle kursiv gesetzten Passagen: http://taz.de/!5301706;m/

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