Dienstag, 23. Februar 2016

Im Stich gelassen

Wenn es etwas gibt, das „typisch deutsch“ ist, dann ist es nicht das Oktoberfest, es sind nicht die „Meistersinger“ von Wagner und auch nicht Ausdrücke wie „Willkommenskultur“, „Trauerarbeit“ und „Zivilgesellschaft“. Es ist eine aggressive Form der Wehleidigkeit, der Wunsch, sich zum Opfer zu stilisieren, das seinen Nachbarn so viel Gutes angetan hat und dafür nichts als Undank erntet. Darum ging es auch in der letzten „hart aber fair“-Sendung mit Frank Plasberg: „Wohin mit den Flüchtlingen – lässt Europa uns im Stich?“ Und am heftigsten lassen „uns“ ausgerechnet die Staaten im Stich,  die uns am meisten verdanken, nämlich ein paar friedliche und erholsame Jahre unter deutscher Vormundschaft: Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn. Rolf-Dieter Krause, der seit gefühlten 1000 Jahren für die ARD aus Brüssel berichtet, brachte es auf den Punkt:

Und das ist ein Problem, das wir jetzt haben. Und ich sage, das ist gefährlich. Ich glaube, dass die Menschen, die da sitzen (zeigt ins Publikum), dass die deutschen Menschen, ganz normale, keine Journalisten, keine Politiker, die registrieren sehr genau, ob unser Land jetzt allein gelassen wird mit diesen Dingen oder nicht. Und dieses ist ein Land, das in Europa bisher immer solidarisch war, enormer-weise... Und die Folgen, die das hat, in unserem Land: Können sie sich vorstellen, dass eine deutsche Regierung es dann, wenn wir alleine bleiben, noch mal schaffen kann, vor ihren Wählern zu vertreten, dass die solidarisch ist gegenüber Ländern, die mit uns nicht solidarisch waren? Ich halte das für fast unmöglich. Und dann muss man sich überlegen, was das für Europa bedeutet...

Faszinierend zu beobachten, wie schnell ein bekennender Europäer zum Deutschen regrediert. Dabei lässt er unter den Tisch der eingeforderten Solidarität fallen, dass Deutschland mehr als jedes andere Land in Europa von der EU profitiert und sich zu einem Hegemon entwickelt hat. Und nun, da die anderen nicht mitmachen wollen bei der „fairen Umverteilung“ der Flüchtlinge, wird der Pate böse. Er droht damit, die Koffer zu packen und woanders hinzuziehen. Sollen doch die Europäer zusehen, wie sie alleine klarkommen!
Solidarität ist keine Einbahnstraße. Und Geisterfahrer, das sind immer die anderen.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche

Quelle: http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/im_stich_gelassen

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